

Critical Medievalism
Das Mittelalter schreiben? Assoziative Impulsgeschichten aus Freiburg
An der Uni Freiburg kam im Wintersemester 2022/23 zum ersten Mal der Arbeitskreis Critical Medievalism zusammen. Wir sind eine Gruppe von Studierenden, Promovierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, die sich kritisch mit "dem Mittelalter" und dessen Rezeption in unserer Gesellschaft auseinandersetzt.
Dabei gehen wir der Frage nach, welche Bilder und Vorstellungen "des Mittelalters" in Filmen, Büchern oder Videospielen vermittelt werden und was das alles mit unserer eigenen Gegenwart zu tun hat. Zuletzt haben wir uns kritisch mit historischen Romanen, insbesondere Ken Follett beschäftigt. Historische Romane arbeiten, wie auch historische Filme, Spiele usw. mit Mittelalterbildern und -stereotypen und transportieren mit diesen und darüber hinaus Rollen- und Gesellschaftsbilder, die mit der vermeintlich abgebildeten Zeit weniger zu tun haben als mit der Gegenwart der jeweiligen Autor:innen.
In unseren Diskussionen kamen wir immer wieder an den Punkt, dass wir, wären wir Romanautor:innen, alles ganz anders – ja besser – machen würden. Aber Wissenschaftler:innen schreiben ja keine Geschichten. Warum eigentlich nicht?
Aus den Diskussionen um Ken Follets Der Morgen einer neuen Zeit kristallisierte sich für viele von uns heraus, dass Wissenschaftler:innen selbst keine Geschichten schreiben könnten, da wir nicht kreativ genug wären und uns lieber wissenschaftlich und entsprechend unkreativ mit "dem Mittelalter" auseinandersetzen würden. Darauf haben wir nach weiteren Diskussionen die folgenden Antworten gefunden:
1. Wissenschaftliches Arbeiten ist durchaus kreativ und
2. Jede:r hat Fantasie, die er:sie aktivieren kann, um sich Geschichten auszudenken.
Unsere eigenen Vorstellungen davon, was eine Geschichte zu einer richtigen Geschichte macht, sind nicht unabhängig von der Art und Weise, wie wir selbst Geschichten aufnehmen und konsumieren. Sofort hat sich bei uns der Gedanke der Verwertbarkeit unserer eigenen Geschichten eingeschlichen: „Würde das denn überhaupt jemand lesen wollen?“ Oder anders gefragt: „Würde sich ein solches Buch verkaufen?“ Offensichtlich hindern marktwirtschaftliche Erwartungen an das Ergebnis uns daran, selbst aktiv zu werden und uns Geschichten über ‚das Mittelalter‘ auszudenken.
Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für die Idee des Schreibworkshops. Der Verwertungslogik des Buchmarktes entgegentretend haben wir uns dazu entschlossen, unsere eigenen kurzen Geschichten zu schreiben, um uns unseren eigenen Vorstellungen, Vorurteilen und Narrativen zu stellen und diese bestenfalls kreativ zu (de-)konstruieren. Wir wollten herausfinden, wie wir unser fachliches Wissen und unsere eigenen Mittelalterbilder miteinander verweben und bewusst oder unbewusst in unsere Erzählungen einbringen würden.
Wir organisierten einen Schreibworkshop, in dem jede:r innerhalb etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte verfasste. Zufällig gewählte Begriffe gaben fürs Schreiben einen Startpunkt und setzten Impulse, die den Schreibprozess erleichtern und zu neuen Ideen anregen sollten. Zu diesem Zweck erstellten wir im Vorfeld Listen mit Begriffen aus den Kategorien „Zeitraum“, „geografischer Raum“, „sozialer Stand des:der Protagonist:in“, „zufälliges Dingobjekt“, „Schauplatz“ und „Ereignis“.
Aus diesen Listen wurden per Zufallsgenerator Begriffe ausgelost, die in die Geschichten integriert werden sollten. Zu Beginn des Workshops ergaben die gezogenen Begriffe die folgende Ausgangsbasis für die ersten 15. Minuten des Schreibens: "15. Jahrhundert", "Frankreich", "Klerus" und "Reliquie". Nach Ablauf der Zeit wurden im 15 Minuten Takt neue Begriffe gezogen, die in die Geschichten integriert werden mussten: "Feuer", "Hostie", "Naturkatastrophe" und "Schwein".
Daraus sind 6 Impulsgeschichten entstanden, die im Frankreich des 15. Jahrhunderts spielen, deren Protagonist:innen dem Klerus angehören und in denen eine Reliquie, ein Feuer, eine Hostie, eine Naturkatastrophe und ein Schwein vorkommen. Diese Geschichten möchten wir hier mit euch teilen. Ob sie wirklich besser sind als Ken Follett, müsst ihr selbst entscheiden. Immerhin laufen sie nicht teleologisch auf den Manchester-Kapitalismus und Tony Blair hinaus. ;-)
Zuletzt möchten wir noch ein paar Eindrücke und Erfahrungen teilen: Der Schreibworkshop hat allen Beteiligten große Freude bereitet. Jede:r konnte etwas schreiben und aktiv an der kreativen Auseinandersetzung in Form einer eigenen Geschichte teilnehmen. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass durch kreatives Schreiben Leerstellen gefüllt werden können, die durch archivalische Quellen und historische Überlieferungen oft unzugänglich bleiben. Das Leben, Denken und Empfinden marginaler Gruppen und Figuren, das in den historischen Quellen kaum dokumentiert ist, kann durch Erzählungen (neu) erfahrbar gemacht werden. Und genau darin liegt – bei aller Kritik – auch die Stärke Historischer Romane.
Website: | https://criticalmedievalism.wordpress.com/ |
eMail: | critical.medievalism@posteo.de |