Pilgern wie im Mittelalter: Im Interview mit Histo|Faber

Die Zugänge zur Geschichte sind heute überaus facettenreich. Wir haben mit Philipp Heil und Mai-Britt Wiechmann gesprochen, die – wie wir finden – auf ganz wunderbare Weise und mit hohem Anspruch das 15. Jahrhundert auferstehen lassen. Jüngst sind die beiden im Rahmen ihres ›Pilgerprojekt 2020‹ auf eine „historische“ Wallfahrt gegangen: der ideale Zeitpunkt, um mit den beiden ins Gespräch über ihren ganz persönlichen und besonderen Zugang zum Mittelalter zu kommen.



Mittelalter Digital: Liebe Mai-Britt, lieber Philipp, schön, dass ihr beiden euch die Zeit nehmt, uns ein wenig über euer Projekt zu berichten. Wer euch in den letzten Wochen und Monaten auf Instagram oder eurer Webseite besucht hat, weiß, dass ihr schon auf zahlreichen Kanälen zu euren Projekten und den Ideen dahinter befragt wurdet. Umso freut es uns, dass man euch nach wie vor für ein „Rede und Antwort“-Stehen begeistern kann.



Philipp und Mai-Britt: Ja, wir freuen uns auch! Vielen Dank, dass wir da sein dürfen, wenn auch nur virtuell.



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Mai-Britt und Philipp in ihren Rollen als Anneke und Lukas Vos.



Mittelalter Digital: Generell widmet sich euer Projekt ›Histo|Faber‹ der „Darstellung und Vermittlung von Leben und Alltag im Norddeutschland des ausgehenden 15. Jahrhunderts“. Zu diesem Zweck schlüpft ihr beiden in die Rolle des Bürgerpaares Anneke und Lukas Vos, die aus ihrer „historischen“ Warte heraus verschiedene Bereiche des spätmittelalterlichen Lebens darstellen und erklären.



Eurer Webseite nach liegen die Ursprünge eurer Idee in einem weinseligen Abend des Jahres 2013: Wie kam es dazu, dass ihr euch thematisch und zeitlich gerade für das Bürgertum des 15. Jahrhunderts entschieden habt?



Philipp und Mai-Britt: Ganz ursprünglich, als wir anfingen, gemeinsam das „Mittelalter“ darstellerisch unsicher zu machen, war unser Richtwert gar nicht das 15. Jahrhundert, und auch nicht das Bürgertum – nicht einmal die Vermittlung war zu dem Zeitpunkt im Fokus, auch wenn sowohl Vermittlung als auch Bürgertum des 15. Jahrhunderts sehr schnell unser Go-To wurden.



Erst mit besagtem weinseligen Abend aber sind wir auf die Pilgeridee gekommen. Mai-Britt hatte sich damals schon im Studium immer mal wieder mit Wallfahrten beschäftigt und der Jakobsweg in Spanien schien uns beiden ganz reizvoll. Und wie das so ist, beschlossen wir, beides zu verbinden und den Weg historisch zu beschreiten. Tatsächlich haben wir sowohl den Aufbau einer historischen Pilgerdarstellung als auch den Jakobsweg dann bald in Angriff genommen, letzteren allerdings in moderner Ausstattung. Die Darstellung lief zunächst unter dem Namen „sionpilger“, doch als weiter Darstellungsbereiche dazukamen und wir uns mehr auf Vermittlung konzentrieren wollten, brauchte es einen neuen Namen und ein neues Konzept und das ist Histo|Faber.



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Die Idee, das spätmittelalterliche Pilgerwesen darzustellen, wurde zu Beginn im Projekt ›Sionpilger‹ verwirklicht.



Die beiden Bürger sind sozusagen unser Referenzrahmen für alle drei Darstellungen – bürgerlicher Alltag, Buchwerkstatt und Pilger –, die wir mittlerweile vereinen. Das Bürgertum ist ein spannendes und komplexes System, und mit dem voranschreitenden Erstarken dieser Sozialgruppe und dem der Städte im 15. Jahrhundert bieten sich viele Grundlagen für die Vermittlung an. Sie geben den sozialen und finanziellen Hintergrund für ein konsistentes Gesamtbild vor.



Bis wir dann aber tatsächlich historisch pilgern würden, sollte noch einige Zeit ins Land gehen – das haben wir erst diesen Sommer zum ersten Mal umgesetzt.



Mittelalter Digital: Nun wart ihr beiden – darüber durftet ihr ja schon fleißig berichten – im Rahmen eures ›Pilgerprojekts 2020‹ unterwegs, und zwar angelehnt an eine historische Wallfahrt des Conrad Reymer aus dem Jahr 1401 von Hildesheim nach Nikolausberg / Göttingen. Alle Infos dazu habt ihr für alle Interessierten in eurem Blog sehr anschaulich zusammengefasst. Wie kam es dazu, dass ihr gerade diese Wallfahrt „nachgelaufen“ seid?



Philipp und Mai-Britt: An sich war die Wallfahrt des Conrad Reymer ein glücklicher Zufallsfund, den wir auch schon vor einiger Zeit gemacht hatten. Wir stolperten bei einer vollkommen anderen Recherche über das Ratsprotokoll aus Göttingen von 1401, in dem er erwähnt wird.



Wie gesagt, hatten wir eigentlich von Anfang an geplant, einmal historisch zu pilgern, letztes Jahr nahm der Plan dann auch konkretere Züge an. Das hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen werden wir auf Museumsevents und historischen Veranstaltungen immer wieder gefragt, wie praxistauglich unsere Ausstattung denn ist. Alle Gegenstände sind zwar quellenmäßig belegt, aber dem Praxistest hatten sie sich bisher noch nicht gestellt.



Zum anderen, und das hängt wesentlich mit der aktuellen Corona-Situation zusammen, sind uns in diesem Jahr alle Veranstaltungen abgesagt worden. Geschichte wollten wir aber trotzdem vermitteln und haben daher kurzerhand unsere eigene Veranstaltung angekündigt, und zwar virtuell: Über ein virtuelles Reisetagebuch und unseren Blog haben wir live aus der Praxis des mittelalterlichen Pilgerns berichtet, Interessierte konnten uns so digital auf unsere Pilgerreise begleiten.



Die Wahl von Ziel und Strecke war dann ziemlich schnell getroffen: Nicht nur die Streckenführung war dank Conrad Reymer historisch belegt, sondern auch der Zielort, Nikolausberg in Göttingen, bot sich sehr gut an. Nikolausberg gehört zu den wichtigsten Nahwallfahrtsorten des Spätmittelalters in der Region, was heute nur noch die wenigsten wissen, und hat eine wundervoll erhaltene mittelalterliche Wallfahrtskirche!



Mittelalter Digital: Die Vorbereitungen dafür waren – darüber habt ihr auch berichtet – nicht ohne, zumal ihr eure persönliche Wallfahrt mit spätmittelalterlicher Ausrüstung und Kleidung durchgeführt habt. Wie habt ihr das Ganze in den Weg geleitet, wie entschieden, was ihr braucht und wie bestimmte Dinge im Detail auszusehen haben? Habt ihr alles selbst angefertigt? Welche Rolle hat für euch der durch Quellen und Forschungsliteratur verbürgte Rekurs auf ein möglichst „authentisches“ Mittelalter gespielt – und wo lagen die Grenzen zu eben jenem?



Mai-Britt: Ja, das stimmt. Es gab viel vorzubereiten, nicht nur was die Ausstattung anging, sondern auch die Streckenplanung und die Wegpunkte, unser eigenes Training und die Technik, um vom Weg aus berichten zu können. Die Ausstattung ist dabei natürlich der größte Faktor, hier konnten wir aber großteils auf die Rekonstruktionen zurückgreifen, die wir schon über die Jahre für die Pilgerdarstellung angefertigt und gekauft hatten.



Alle unsere Rekonstruktionen basieren auf intensiver Arbeit mit den zeitgenössischen Quellen, sind also entweder schriftlich oder bildlich gesichert. Manchmal, aber das ist eher selten der Fall, können wir uns auch an überlieferten Realien orientieren: Beispielsweise sind viele Pilgerzeichen im Original erhalten oder es gibt auch vier überlieferte Pilgermäntel.



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Kleidung und Ausrüstung im Gebrauchstest.



Was geht, fertigen wir selbst an. Das gilt für unsere Kleidung, aber auch kleinere Gegenstände wie die Pilgerzeichen. Den Pilgerbrief, den wir mit uns führen, hat Philipp beispielsweise nach einem Original aus dem Soester Stadtarchiv angefertigt, unseren Pilgerführer, ein Faksimile-Druck der Mirabilia Romae, habe ich gebunden. Anderes, wie unsere Hüte, die Schuhe oder die Pilgerflaschen lassen wir von Handwerkern herstellen, die sich auf historische Rekonstruktionen spezialisiert haben und auch einen guten Überblick über die Quellenlage haben. Für das Gesamtbild der Darstellung sind aber letztendlich wir verantwortlich.



Das heißt, unser Anspruch an die Belegbarkeit und historische Schlüssigkeit unserer Darstellung ist schon sehr hoch. „Authentisch“ oder „A“ wie es in der Mittelalter-Szene gerne heißt, ist das aber natürlich nicht. Letztendlich sind alles Interpretationen, „authentisch“ wird es niemals sein, weder hinsichtlich unserer Rekonstruktionen noch dessen, was wir darstellerisch umsetzen können.



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Auf ihrer Wallfahrt sind Mai-Britt und Philipp natürlich auch durch schöne Ecken der Natur gekommen.



Mittelalter Digital: Über den eigentlichen Hergang eurer Pilgerreise möchten wir gar nicht so viel reden, insbesondere weil ihr bereits im hörenswerten Podcast von Epochentrotter fleißig alles berichtet habt.



Zwei Aspekte interessieren uns aber trotzdem: Im Podcast habt ihr explizit betont, dass euer Pilgerprojekt keinen Forschungsbeitrag im herkömmlichen Sinne darstellt. Nichtsdestoweniger beschreitet ihr – sogar im Wortsinn – neue Wege, und auch im Vermitteln von Geschichte seht ihr einen Schwerpunkt eurer Bemühungen. Da ihr beiden ja auch über einen mediävistisch-universitären Hintergrund verfügt, verwundert es nicht, dass das akademische Mittelalter in eure Projekte hineinstrahlt.



Strahlen eure Erfahrungen und Ergebnisse auch wieder zurück? Beschreitet ihr explizit Wege, um dies zu forcieren, etwa indem ihr eigene Forschungsliteratur publiziert? Wie verortet ihr euch selbst in der Gemengelage zwischen dem Mittelalter der Universität, dem der Living History und dem der Populärkultur?



Philipp: Unser universitärer Hintergrund hat einen starken Einfluss auf unser Projekt, alleine schon angefangen bei der Recherche, aber auch bei der „Sauberkeit“, wie wir unsere Texte fürs Living History schreiben – jedenfalls wurde ich mal gefragt, von jemandem, der nur 1–2 unserer Texte gelesen hatte, ob wir Geschichte studiert hätten, da man das offenbar merken würde.



Ich habe zwar ein paar Essays geplant, in denen Begriffe aus dem Living History gewissermaßen akademisch diskutiert werden sollen, um eine Diskussionsgrundlage innerhalb der Szene aber auch zwischen der LH-Szene und bspw. der akademischen Public History zu verbessern, aber mehr habe ich nicht geplant für diese Richtung.



Hauptsächlich sind es eher „Recherche-Synergien“ zwischen meiner Arbeit, in der ich mich mit dem Buchhandel des späten 15. Jahrhunderts und dem Bibliothekswesen beschäftige, und der Darstellung, die ja auch den Buchbinder als einen der Grundaspekte hat. Ergebnisse der Recherche für das eine sind auch nützlich für das andere.



Ich selbst sehe mich hinsichtlich der Gemengelage oft als Dolmetscher zwischen den Welten, der in beiden zuhause ist, sowohl Living History als auch Universität. Die Popkultur ist ein guter Freund, der die Gespräche eröffnen kann.



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Anschauliche und erfahrbare Vermittlung steht im Vordergrund der Living History-Projekte.



Mai-Britt: Ja, tatsächlich ist es so, dass unsere Living History-Projekte stark von unseren eigenen wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte beeinflusst sind. Die Pilger kommen beispielsweise aus meiner Arbeit zur Frömmigkeitsgeschichte und zum Wallfahrtswesen, die Buchwerkstatt daher, dass wir beide buchhistorisch forschen.



So wie unser Living History-Projekt viel von unserer Wissenschaft lernt, so wäre es meiner Meinung nach auch andersherum sinnvoll, allerdings beobachten wir da häufig noch gewisse Vorurteile, die, so glaube ich, vor allem aus einem falschen Bild von Living History resultieren. Zwar ist Living History kein wissenschaftlicher Ansatz und kann – das werden wir häufig gefragt – auch keine wissenschaftlichen Ergebnisse generieren. Was es aber kann, ist, Erfahrungen zu vermitteln.



Das gilt zum einen für unsere eigene wissenschaftliche Arbeit: Wenn ich selbst einmal gepilgert bin, habe ich gedanklich einen völlig anderen Zugang zur Realität des Pilgerns, einen anderen Blickwinkel und schaue daher anders auf die Quellen als jemand, der nur einen theoretischen Zugang hat.



Das gilt aber auch für ein breiteres Publikum, das sich vielleicht mit Geschichte und gerade wissenschaftlicher Geschichte gar nicht so sehr auskennt. Hier machen wir häufig die Erfahrung, dass die lebendige und anschauliche Vermittlungsweise, die das Living History bietet, einen viel offeneren Zugang zu historischen Themen bietet als eine Museumsausstellung, eine Fernsehdoku oder gar ein Fachtext. Der Mehrwert von Living History für die Wissenschaft liegt meiner Meinung nach also vor allem im Bereich der Wissensvermittlung.



Dass wir „aus beiden Welten“ kommen, macht es für uns möglich, den Dialog zwischen beiden Seiten zu fördern. Histo|Faber ist unser Mittel, den Weg dorthin zu ebnen. Wir arbeiten mittlerweile verstärkt mit anderen Wissenschaftlern und Museen zusammen, die die Vorteile der lebendigen Vermittlung erkennen.



Gleichzeitig war ich Initiatorin für ein Projekt für wissenschaftsnahes Living History, das auch hier zu einer Annäherung beitragen sollte, nämlich „Marginalia? Geschichte zwischen den Zeilen“. Das sollte eigentlich dieses Jahr zum ersten Mal im Freilichtmuseum Oerlinghausen stattfinden, musste aber wegen Corona ebenfalls verschoben werden.



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Geschichte auch für sich selbst erfahrbar zu machen, erschließt neue Sichtweisen auf den Gegenstand.



Mittelalter Digital: Aus eigener überschaubarer Erfahrung kann ich sagen, dass Forschungsbeiträge (auch jene mit einem vermeintlich für die Breite interessanterem Thema) nur schwerlich dem akademischen Elfenbeinturm entkommen können. Welche Erfahrung habt ihr mit euren Living History-Projekten dabei gemacht, auch Nicht-Spezialisten anzusprechen? Der anschaulich-erfahrbare Zugang hilft bestimmt erst einmal, Interesse zu wecken.



Könnt ihr sagen, wie tief das geweckte Interesse dann tatsächlich reicht? Und habt ihr die Erfahrung gemacht, inwiefern populärere Zugänge zwar einerseits ein breiteres Publikum ansprechen können, aber gleichzeitig wiederum nur schwerlich Zugang zu eben jenem akademischen Elfenbeinturm finden können?



Mai-Britt: Da ist die Bandbreite in der Tat sehr groß! Der lebendige Ansatz macht den Zugang zur Thematik tatsächlich sehr viel niedrigschwelliger. Beispielsweise können wir damit auch sehr gut Kinder ansprechen oder ein Publikum, das ansonsten nur wenig Berührungspunkte mit dem Thema oder Geschichte im Allgemeinen hat.



Wie weit wir in die Tiefe gehen, hängt dann letztendlich von jedem selbst ab. Die meisten bleiben in der Tat auf einem recht oberflächlichen Niveau, viele sind aber auch darunter, die sich sehr für das Thema interessieren, immer weiter nachfragen, und mit denen kommen äußerst interessante Diskussionen zu Stande. Unsere Regel ist dabei, jeder kriegt, so viel er haben möchte: Wir bieten das Wissen frei an, aber wir wollen auch niemanden überstrapazieren, da sonst häufig weniger hängenbleibt als bei wenigen ausgesuchten Informationen. Weniger ist da oft mehr.



Dabei haben wir oft die Erfahrung gemacht, dass gerade dieser lebendige Zugang des Living History die Leute dazu anregt, sich in das Thema hineinzudenken, wie sie es sonst nie tun würden. Gerade unsere Pilger-Darstellung, wo wir auch manchmal als Walk Act oder in kleinen kommentierten Spielszenen auftreten, bietet viele Anknüpfungspunkte, von denen die Leute aus weiterdenken, eigene Fragen entwickeln, vor allem praktischer Natur, und damit hinterher auf uns zukommen.



Darunter sind auch immer wieder einige Fragen, die sehr tief in die Thematik hineinführen, beispielsweise, wie man sich unterwegs finanziert, oder wie das Geschlechterverhältnis unter den Wallfahrern ist.



Philipp: Ich sehe uns in solchen Fällen gerne als eine Art interaktive Museumsvitrine, deren Texte immer genau auf den Betrachter angepasst werden können. Unsere Darstellung ist ein Angebot, der Rest liegt dann am Publikum. Das führt dann auch mal dazu, dass ich beispielsweise anhand der gleichen Objekte auf dem Tisch erst ein Gespräch hatte, woraus man die Farben für Buchmalerei gewinnen konnte und welche Farben möglich sind, direkt darauf ein etwas grundlegenderes Gespräch darüber, dass es im 15. Jahrhundert durchaus gedruckte Bücher gab und wie das funktioniert, diese zu drucken, und direkt im Anschluss eine Diskussion zu den Unterschieden in der Konstruktion von einem gotischen Bucheinband und einem modernen Einband. Ich glaube nicht, dass eine Vitrine so etwas hinbekommt.



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Die tiefgehende Recherche sieht man den Projekten von Mai-Britt und Philipp sofort an – bleibt zu hoffen, dass die beiden nicht alles bei Kerzenschein zusammentragen mussten.



Mittelalter Digital: Der zweite Aspekt, der uns interessiert: Mit dem Pilgerwesen hättet ihr kaum ein Thema wählen können, bei dem religiöse Vorstellungen und religiöses Empfinden eine größere Rolle spielen. Wie würdet ihr euren Zugang zu der Materie beschreiben und welchen Stellenwert besitzt für euch persönlich Alterität (d.h. Andersartigkeit einer Epoche, die faszinieren kann, Anm. d. Red.) bei der Beschäftigung mit dem Mittelalter?



Mai-Britt: In der Tat führt die Pilgerdarstellung uns praktisch mitten ins Herz der spätmittelalterlichen Mentalität. Kirche und Glauben waren damals viel allgegenwärtiger, gelebte Frömmigkeit gehörte zum Alltag. Kaum ein Lebensbereich ist für uns moderne Menschen schwieriger nachzuvollziehen. Aber gerade das macht ihn natürlich auch besonders spannend!



Wir versuchen dem Publikum einen differenzierteren Einblick in die spätmittelalterliche Lebenswelt zu geben, der über solche Vorurteile wie „Die Kirche hat damals den ganzen Fortschritt verhindert!“, „Die Kirche ist schuld an den Hexenverbrennungen und Kreuzzügen!“ und „Die Leute waren alle nur so leichtgläubig, weil die Kirche sie künstlich dumm gehalten hat!“ hinausgeht – und gerade im Bereich Kirche und Glauben sind diese Klischees besonders weit verbreitet.



Ich glaube aber nicht, dass man religiös sein muss, um dieses Thema betrachten zu können. Moderne Religiosität unterscheidet sich ohnehin stark von der gelebten Frömmigkeit im Mittelalter, daher ist ein religiöser Hintergrund für diese Thematik vermutlich gar nicht sonderlich hilfreich. Ich möchte sogar wagen zu behaupten, dass er vielleicht sogar den Blick auf die Epoche und den Sachverhalt verstellen kann, so wie es bei vielen konfessionell geprägten kirchen- und frömmigkeitshistorischen Arbeiten bis weit ins 20. Jahrhundert der Fall war.



Philipp: Das sehe ich ähnlich. Ich halte es für möglich, dass eine zu große Ähnlichkeit von dem Thema, mit dem man sich beschäftigt, und dem gewohnten Thema, bspw. mittelalterliche und moderne katholische Liturgie, hinderlich sein könnte, da man eine viel enger definierte Brille für die Interpretation aufhat; Wir sind beide für solche Fragen keine Tabulae Rasae, aber auch nicht in Gewohnheiten festgefahren.



Die Andersartigkeit des mittelalterlichen, religiösen Lebens ist immer wieder ein sehr faszinierender Faktor. Während für das private Alltagsleben meines Erachtens nach vieles dem heutigen relativ ähnlich war, hat sich darin, wie man den Glauben begeht, so einiges geändert. Ich habe erst vor kurzen eine Beschreibung gefunden, dass bei einer Heiltumsweisung, also dem öffentlichen Zeigen von wichtigen Reliquien, 1510 die anwesenden Pilger, Bürger und sonstige Besucher einen solchen Lärm gemacht hätten, dass der Autor es als Beben des Bodens beschrieb. Und das war für ihn etwas Positives!



Dem Klischee nach – dem vom andächtigen und zurückhaltenden Mittelalter und der stillen, zurechtweisenden Kirche – wäre das eigentlich undenkbar, aber es war offenbar doch so. Gerade solche Unterschiede zwischen Erwartung und Ergebnis sind immer wieder spannend; für uns und auch für die Besucher, mit denen wir reden.



Mittelalter Digital: Im populärkulturellen / medialen Zugang zum Mittelalter ist Religiosität in aller Regel negativ dargestellt, um die vermeintlich rückständischen Aspekte der Epoche zu inszenieren.



Habt ihr – in Ergänzung zur vorigen Frage – Erfahrungen gesammelt, ob der religiöse Zuschnitt eures Projekts in eurer Vermittlungsarbeit eher von Vor- oder von Nachteil ist? Müsst ihr regelmäßig Hemmschwellen überwinden und Vorurteile abbauen? Oder weckt im Gegenteil die religiöse Ausrichtung das Interesse? Ist es für euch schwieriger, diese Aspekte tiefergehend zu vermitteln und inwiefern könnt ihr dem religiösen Aspekt nun vielleicht sogar etwas mehr abgewinnen oder ihn zumindest (noch besser) nachvollziehen?



Philipp: Das ist eine sehr spannende Frage. Bisher habe ich sehr häufig diese negativen Vorurteile bemerken können, aber als wirklich hinderlich habe ich sie nicht wahrnehmen können. Vorurteile und Klischees sind herrliche Aufhänger und Gesprächsöffner, und Themen wie „der böse Ablasshandel“ war auf den Veranstaltungen bisher ähnlich offen wie „Schwerter waren alle stumpf“: Man bleibt recht sachlich und der Besucher ist neugierig und hört interessiert zu, stellt Rückfragen etc.



Heikel werden dann nur Themen wie der Umgang mit Minderheiten, bspw. mit den mittelalterlichen Juden, was ja auch religiös ist, aber auch mehr beinhaltet. Manche Menschen reagieren allein bei dem Wort „Jude“ etwas ablehnend, weil ihnen das Thema potenziell zu heikel sein könnte. Das ist heute aber mehr gesellschaftlich-politisch als religiös begründet, würde ich vermuten.



Mittelalter Digital: Zum Abschluss: Was habt ihr für die Zukunft geplant? Philipp hat im Podcast ja bereits angedeutet, dass er ein Auge auf ein mittelalterliches Rüstzeug geworfen hat – nachdem ihr dieses Jahr friedlich gepilgert seid, plant ihr fürs nächstes Jahr das Nacherleben der Plünderung Lindisfarnes oder Ähnliches? Wisst ihr schon, wo eure Reise demnächst hingeht?



Philipp: Von einer umfassenden Rüstung träume ich schon seit Jahren, und auch wenn sie nach einer Spielerei klingen mag, würde sie ideal in unser Projekt passen. Wir versuchen ja, möglichst viele Aspekte des bürgerlichen Lebens zu beleuchten, und da man als Bürger im 15. Jahrhundert in der Regel auch verpflichtet war, bei der Verteidigung der Stadt zu helfen, und dafür einen bestimmten Umfang an Waffen und Rüstung parat zu haben, gehörte derartiges Gerät irgendwie zu einem vollständigen Haushalt dazu.



Der Umfang der Ausrüstung wurde in den Stadtordnungen festgehalten und häufig findet man sogar eine Abstufung je nach Steuerleistung. In Göttingen reicht das von Helm, Handschuhe, „Jacke“ und Armbrust für die unterste Steuerklasse bis zum „vollen Harnisch“ und einer Hakenbüchse. Zudem war auch in mehreren Städten Kampfsport, d.h. Fechten und Ringen, unter den Männern fast so normal wie heute das Fitnessstudio, und die Fechter organisierten sich ähnlich wie man es heute von Schützenvereinen kennt, inkl. Turniere mit großem Umzug durch die Straßen.



Und da ich mich auch im Verein „Drey Wunder“ mit historischen Kampftechniken beschäftige, würde die Rüstung, ähnlich wie meine Trainingsschwerter, nicht nur Deko werden, sondern auch Einsatz finden, und somit die Bürgerdarstellung bereichern.



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Immerhin steht den beiden schon einmal ein stolzes Ross zur Verfügung.



Mai-Britt: Eine so konkrete Anschaffung habe ich für mich erst einmal nicht geplant. Was ich schon länger als Idee mit mir herumtrage, ist eine religiöse Darstellung, beispielsweise als Begine. Auch das würde das Frömmigkeitsthema noch einmal aufgreifen, bietet aber auch neue Einblicke in den Bereich Gender-Geschichte und in die städtischen Sozialstrukturen. Allerdings wird es dann oft schwierig, gemeinsam aufzutreten. Das führt dann doch bei vielen schnell zu falschen Assoziationen vom Mönch, der Nonne und der ungewollten Schwangerschaft – das möchte ich wirklich nicht!



Außerdem habe ich nebenbei in Ergänzung zu Histo|Faber noch einige Projekte im Bereich Living History am Laufen, unter anderem das erwähnte „Marginalia?“-Projekt, das nun voraussichtlich im kommenden Sommer stattfinden wird. Auch die sollen den Dialog zwischen Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit befördern.



Mittelalter Digital: Ihr Lieben, ganz herzlichen Dank für eure Zeit, Antworten und spannenden Einblicke! Wer Mai-Britt und Philipp und ihre Projekte nun näher kennenlernen möchte, sollte unbedingt ihre Webseite besuchen. Wir halten euch natürlich auch in Zukunft über Neuigkeiten auf dem Laufenden!



Das Interview führte Tobias Enseleit.