Über Wikinger: Im Interview mit Prof. Dr. Rudolf Simek

Rudolf Simek ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Als Skandinavist und Germanist hat er sich in den letzten Jahrzehnten wie kaum ein anderer mit Wikingern und Nordmännern beschäftigt. Daneben hat er sich ausgiebig mit der Kultur der Germanen und mittelalterlichen Fabelwesen und Monstern auseinandergesetzt, die bis heute unser Bild eines fantastischen Mittelalters prägen.



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Mittelalter Digital: Lieber Herr Simek, ich glaube, man sagt nichts Falsches, wenn man Sie als Koryphäe auf dem Gebiet der Wikinger- und Normannenforschung bezeichnet. Allein in den letzten Jahren haben Sie rege zu diesem Themenfeld publiziert. Dieses Jahr erscheint noch die mittlerweile achte Auflage Ihres Einführungsbandes ›Die Wikinger‹, 2018 veröffentlichten Sie ›Die Geschichte der Normannen: Von Wikingerhäuptlingen zu Königen Siziliens‹, 2016 die Monographie ›Vinland!: Wie die Wikinger Amerika entdeckten‹ und 2014 ›Die Schiffe der Wikinger‹. Aufsätze, Herausgeberschaften und Editionen sind in dieser Auflistung gar nicht berücksichtigt, die damit nur die Spitze des Eisberges einer mittlerweile Jahrzehnte währenden Forschungstätigkeit abbildet.



Eine so tiefgehende Beschäftigung mit einem Thema ist ohne vertieftes persönliches Interesse gar nicht denkbar; woher kommt Ihre Begeisterung für den Gegenstand, die über Jahrzehnte hinweg nicht abgeklungen ist?



Rudolf Simek: Ursprünglich schon in den frühen 1970er Jahren von der Begeisterung für Wikingerschiffe, über die ich dann später auch meine Dissertation geschrieben habe. Ab da hat mich das Thema nie wieder losgelassen.



Mittelalter Digital: Spätestens mit dem Erscheinen der Serie ›Vikings‹ (seit 2013) sind die Wikinger wieder in das Bewusstsein einer sehr breiten Öffentlichkeit geraten, wobei das Sujet natürlich auch in den Jahren zuvor regelmäßig Gegenstand von populärkulturellen Inszenierungen war. Daneben gibt es auf der Grenze zwischen Living History, Popular History und LARP eine große Reenactmentszene. Zusätzlich beanspruchen die Wikinger auch ihren festen Platz in der Kinderunterhaltung, im historischen Roman, in der Rock- und Metalszene und vielen Bereichen mehr.



Verfolgen Sie als ein Fachvertreter, der in der Vergangenheit regelmäßig auch den außerakademischen Diskurs gesucht hat, intensiver, wie Wikinger und Normannen gesamtgesellschaftlich verhandelt werden? Wie gehen Sie als Fachmann mit diesen – nicht selten ja recht stereotypen – Vorstellungen um? Haben Sie in den letzten Jahren, bspw. in der Lehre, festgestellt, ob durch die erfolgreichen Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit von Studierenden ein größeres Interesse an das Thema herangetragen wird?



Rudolf Simek: Ja, natürlich verfolge ich das mit Spannung, denn die öffentliche Rezeption spiegelt nicht nur – mit gewisser Verzögerung – den Forschungsfortschritt, sondern wirft auch immer ein Licht auf die allgemeinen Zeitströmungen! Aber so neu ist das Interesse nicht: Seit gut 20 Jahren haben Ausstellungen, Festivals, Dokumentationen und sogar Kinofilme die Wikinger in das allgemeine Bewusstsein gerückt – und das Interesse scheint keineswegs nachzulassen!



Mittelalter Digital: Nun sind die Bezeichnungen Wikinger und Normannen heute in erster Linie nichts Anderes als Sammelbegriffe für eine Gruppe von Menschen, die wir über Jahrhunderte fassen können, die in sich überaus differenziert war und die uns in ganz unterschiedlichen Quellengattungen begegnet. Wikinger und Normanne werden als Begriffe gemeinhin mal synonym verwendet, mal als chronologisches und kulturelles Distinktionsmerkmal. Hinzu kommt in den Quellen eine ganze Handvoll weiterer, nicht selten synonym verwendeter Bezeichnungen wie Dänen (daci, etwa bei Heinrich von Huntingdon oder Dudo von St. Quentin, Danis vel Nortmannis bei Adam von Bremen) oder Heiden (gentib in den Annalen von Ulster), während wir ab einem gewissen Punkt – etwa bei Heinrich von Huntingdon, einem Chronisten des 12. Jahrhunderts – ein durch gemeinsame Geschichte und Abstimmung begründetes „normannisches“ Zusammengehörigkeitsgefühl fassen können.



Was ist eigentlich ein Wikinger und was ist ein Normanne und inwiefern haben sie sich als Angehörige eines Volkes, einer gens (lat. Geschlecht, gemeinsame Abstammung) empfunden?



Rudolf Simek: In verschiedenen Perioden und unterschiedlichen Sprachen sind die beiden Begriffe jeweils anders besetzt. Aber aus heutiger wissenschaftlicher Sicht sind Wikinger Seeräuber aus Skandinavien (allenfalls noch alle Skandinavier der Wikingerzeit), die Normannen aber nur die Skandinavier, die sich in der Normandie niedergelassen hatten. Nach drei Generationen sprachen sie französisch, waren durchwegs Christen und begannen von hier aus ihre Expansion nach England und Italien im 11. Jahrhundert – also schon gegen Ende der Wikingerzeit.



Mittelalter Digital: Die methodischen Herausforderungen, sich dem Thema zu nähern, sind aufgrund der differenzierten Quellenlage, dem Bezeichnungswirrwarr und anderen Gründen mehr recht komplex. Wie haben Sie als Autor von Einführungs- und Überblicksbänden sowohl zu den Wikingern als auch den Normannen diese Schwierigkeiten wahrgenommen und wie haben Sie diesem äußerst heterogenen Gegenstand einen einheitlichen Rahmen gegeben?



Rudolf Simek: Die Terminologie ist wichtig und man sollte immer mit den Begriffen beginnen – Eigenbezeichnungen oder Fremdbezeichnungen. Vor den historischen Entwicklungen kommen für mich die Wörter in den Quellen.



Mittelalter Digital: Wikinger bzw. Normannen gehören zu den umtriebigsten Völkern (sofern man diesen Begriff verwenden will) des Mittelalters. Von Skandinavien nach England, Irland und Schottland, über den Atlantik nach Grönland und Amerika, nach Frankreich und Deutschland, nach Russland und Byzanz, nach Sizilien und bis ins Heilige Land – Nordmänner haben in der ganzen bekannten Welt und darüber hinaus Handlungsbeziehungen geknüpft und eigene Herrschaften errichtet. Woher kam dieser über Jahrhunderte verspürte Drang, die heimischen Gestade zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen?



Rudolf Simek: Dafür gibt es ein ganzes Bündel von Gründen, ohne dass man einen davon überbewerten sollte: Klimatische Veränderungen waren es jedenfalls sicher nicht oder jedenfalls nicht allein!



Mittelalter Digital: Sehr konkrete Vorstellungen vom Aussehen, Verhalten und den Lebensgewohnheiten von Wikingern werden uns bereits von Kindesbeinen an vermittelt: Drachenboote, Hörnerhelme, Met- und Bierhörner, raue Feste, Raub und Plünderungen – der Wikinger an sich scheint ein ziemlich bärbeißiger Geselle gewesen zu sein. All diese Allgemeinplätze und Klischees zu verwerfen oder zu bestätigen, ist hier nicht der Platz. Trotzdem möchten wir die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen einige wenige sehr verbreitete Allgemeinplätze zu diskutieren.



Aussehen und Alltagsleben der Wikinger sind in unserer Vorstellungswelt heute konkret besetzt: Zottelbärte, Undercuts, rasierte Kopfseiten, Gesichts- und Körpertätowierungen sind Common Sense in vielen Bereichen der Wikingerdarstellung, sei es in der Serien- oder Videospiellandschaft oder im LARP und Reenactment. Wissen wir heute aus Quellen wie sich Wikinger zu einem bestimmten Zeitpunkt modisch und optisch gegeben haben?



Rudolf Simek: Vieles, was heute in Filmen oder der Reenactor-Szene als wikingisches Aussehen präsentiert wird, ist entweder reine Phantasie oder blanker Unsinn. Über die farbenprächtige, mitunter orientalisch angehauchte Kleidung von Wikingerhäuptlingen wissen wir aus Funden recht gut Bescheid, aber Tätowierungen und eigentümliche Haarschnitte sind Unfug: im Gegenteil, Bilddokumente etwa auf Runensteinen zeigen uns Männer entweder mit Topfhaarschnitten oder sehr ordentlichem schulterlangen Haar, Frauen mit einem sehr langen Zopf: jedenfalls keine lächerlichen Seitenrasuren o.ä. Nur eines hat sich endlich erfolgreich durchgesetzt, nämlich die Erkenntnis, dass die Wikinger keine Hörnerhelme trugen.



Mittelalter Digital: Folgt man den aktuellen Darstellungen in der Populärkultur, ist es auffällig, dass die Frauen der Wikinger eine weitaus emanzipiertere Rolle innegehabt haben sollen als die Frauen in den christlichen Reichen. Die Schildmaid Lagertha aus der Serie ›Vikings‹ etwa gehört bei Fans zu den beliebtesten Figuren, und auch im neuen ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ besteht die Möglichkeit, eine Frau zu spielen (was am eigentlichen Spielinhalt allerdings nichts ändert). Funde in Wikingergräbern hochgestellter Frauen weisen mitunter Waffen und Rüstzeug auf, jüngst hatte ein Artikel auf Welt.de mit dem Titel „Starke Frauen führten sogar Wikingerheere in die Schlacht“ die gleichberechtigte und emanzipierte Rolle von Frauen herauszustellen versucht. Aus welchen Quellen speisen sich diese Vorstellungen emanzipierter, ja „moderner“ Frauen und wie sind sie zu bewerten?



Rudolf Simek: Ein vereinzeltes Frauengrab mit Waffen und zwei spätmittelalterliche Sagas mit Heerführerinnen sind aus wissenschaftlicher Sicht eine allzu dünne Grundlage für eine allgemeine Interpretation! Auch falls es wirklich kämpfende Frauen gegeben haben sollte, sahen sie sicher nicht aus wie Lagherta. Allerdings: Ein starkes Selbstbewusstsein skandinavischer Frauen, wie es ja noch heute in Skandinavien spürbar ist, mag durchaus darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen bei monate- oder jahrelanger Abwesenheit der Männer sich durchaus eigenverantwortlich um Haus und Hof kümmern mussten.



Mittelalter Digital: Eine große spirituelle Anziehungskraft besitzt bis heute – auch in Abgrenzung zu christlichen Glaubensvorstellungen und -konzepten – Walhall, der jenseitige Ort, den sich Krieger durch Schlachtentod verdienen können. Hier treffen Vorstellungen eines langweiligen Lebens im Himmel und einer ewig andauernden Party in Walhalla aufeinander. Welche Rolle spielt Walhall in der Kultur der Wikinger und was macht Ihres Erachtens die ungebrochene Faszination an diesem Konzept aus?



Rudolf Simek: Nun, das sehe ich ganz anders. Dieses Kriegerparadies war ja nur den im Kampf gefallenen Männern zugedacht – sicherlich auch damals ein recht kleiner Bevölkerungsanteil – und selbst die hatten, wie uns die ältesten Quellen zu Walhall von der Mitte des 10. Jahrhunderts zeigen, eher Angst, dort hinzukommen: schließlich herrschte in Asgard Odin, ein notorisch unverlässlicher Gott. Für die meisten Menschen – vor allem Frauen – war der christliche Himmel ohne Sorgen und Hunger ein viel attraktiverer Ort: endlich ein Platz, an dem Gerechtigkeit herrscht.



Mittelalter Digital: Wikinger und Normannen scheinen heute vielen Menschen noch etwas zu sagen zu haben. Ihr Leben und ihre Taten stellen Projektionsflächen für ganz unterschiedliche Wünsche, Interessen und Ängste dar. Was haben wir Ihres Erachtens Wikingern und Normannen in historischer Perspektive zu verdanken und was ist ihre „Botschaft“ an uns heute?



Rudolf Simek: Jeder sucht und findet natürliches Anderes in der Wikingerzeit, und ich kann Tendenzen zur Zivilisationsflucht in die Vergangenheit auch gut nachvollziehen. Aber mir sagen die Wikinger erstens: Die Welt ist klein, und auf ihr gibt es trotzdem viel zu entdecken! Und zweitens: Habt nicht so viel Angst!



Mittelalter Digital: Haben Sie einen Lieblingswikinger, eine Lieblingswikingern bzw. Lieblingsnormannen, eine Lieblingsnormannin?



Rudolf Simek: Liebling vielleicht nicht, aber die faszinierendste Gestalt ist für mich der norwegische König Harald der Harten und sein Leben zwischen Norwegen, Kiev, Byzanz und dem Nahen Osten, bis zu seinem Tod 1066 beim Versuch, auch noch England zu erobern: Mich wundert, dass es über ihn immer noch keinen Spielfilm gibt.



Mittelalter Digital: Abschließend interessiert uns natürlich, welche Projekte Sie in naher Zukunft verfolgen. Aktuell arbeiten Sie, wenn ich das richtig sehe, unter anderem an eine Übertragung isländischer Sagas ins Deutsche.



Rudolf Simek: Ja, noch im November werden im Kröner Verlag der 2. und 3. Band unserer „Sagas aus der Vorzeit“ erscheinen, die ich seit drei Jahren mit Bonner Studenten übersetzt habe: Über 1000 Seiten abenteuerliche Sagas aus dem Mittelalter, die in der Wikingerzeit spielen und besser als viele moderne Fantasyromane sind. Die darin beschriebene phantastische Welt voller Heldentum und Magie hat nämlich einen enormen Vorteil gegen heutige Fantasy-Welten: Es ist unsere eigene Welt, aber vor 1000 Jahren!



Mittelalter Digital: Lieber Herr Simek, noch einmal ganz herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, uns aus Ihrer Warte die Wikinger und Normannen näherzubringen! Wer sich nun eingehend mit dem Thema auseinandersetzen möchte, findet einschlägige Werke bei uns in der Mediathek. Viel Freude beim Lesen und bei der Entdeckung der Welt der Wikinger und Normannen!



Das Interview führte Tobias Enseleit.