Monster, Trolle, Wikinger: Das Monströse in der isländischen Sagaliteratur

Die mittelalterliche Sagaliteratur Islands blickt mit einigem zeitlichen Abstand zurück auf die Wikingerzeit.¹ In diesem Rückblick, der irgendwo zwischen Erinnerung und Imagination anzusiedeln ist, werden nicht nur die Besiedlung Islands, die Gründung der isländischen Gesellschaft und die Christianisierung des Landes reflektiert, sondern auch viele paranormale und monströse Wesen, die die Landschaften und Erzählungen bevölkern. In diesem Artikel möchte ich eine Einführung in die "Monsterwissenschaft" geben, einige Ansätze vorstellen, und die trollischen Monster der Isländersagas beleuchten. Was macht diese Wesen aus? Wie werden sie dargestellt? Und inwiefern können wir sie als monströs bezeichnen? Monstrosität ist ein komplexes Thema, und ich kann hier nur einige generelle Punkte ansprechen. Ich hoffe aber, mit diesem Beitrag das Interesse an Monstern und/in den Isländersagas zu wecken.



Aber was sind überhaupt Monster? Das Wort monstrum wird etymologisch mit demonstrare, „zeigen, aufzeigen“ und monere, „warnen“ in Verbindung gebracht. Das Monster ist also ein Wesen, das vor etwas warnt und auf Dinge jenseits seiner selbst hindeutet. Im Mittelalter wurden mit dem Begriff monstrum vor allem Wesen bezeichnet, die aus antiken und spätantiken gelehrten Traditionen bekannt waren. So schrieben bereits Plinius der Ältere, Augustinus von Hippo und Isidor von Sevilla über monstra und bezeichneten mit ihnen hybride Wesen, die entweder aus Mensch und Tier zusammengesetzt sind oder deren Körper durch Deformationen von der menschlichen Norm abweichen. Darunter befinden sich Hundsköpfige genauso wie Blemmyae, die ihr Gesicht auf der Brust tragen, oder Sciapoden, die auf einem großen Fuß hüpfen. Diese Wesen gehören alle zu den sogenannten Wundervölkern.





Gattungen des Monströsen (Bildnachweis: Livre des merveilles du monde, BnF ms fr 1377, 27r).



Weil diese Wesen in der gelehrten Literatur der Spätantike und des Mittelalters mit dem Begriff benannt wurden, aus dem unser modernes „Monster“ wurde, haben manche Wissenschaftler argumentiert, dass nur diese Form von Monstrosität im Mittelalter auch als solche bezeichnet werden kann. Dagegen wendet sich jedoch die moderne Monsterforschung. Bereits 1996 publizierte Jeffrey Jerome Cohen das kulturwissenschaftliche Manifest ›Monster Culture (Seven Theses)‹, in dem er eine transhistorische und transkulturelle Monstertheorie aufstellt.



Zentrale Feststellungen sind hier vor allem, dass der hybride Körper des Monsters ein kulturell nutzbarer Körper ist: Durch seine Funktion als etwas, das mahnt und aufzeigt, wird das Monster lesbar im Kontext seiner Entstehung. Zudem hält Cohen fest, dass Monster soziokulturelle Grenzen bewachen: Wer ihnen zu nahekommt, wird entweder getötet oder selbst zum Monster. Wichtig ist hier, dass Cohens Theorien und viele darauf aufbauende Publikationen sich weiter um körperliche Monstrosität drehen – andere Formen des Monströsen sind erst einmal nicht greifbar. Zudem ist hier das Monströse dichotom dem Menschlichen gegenübergestellt. Bereits Margrit Shildrick schlägt aber in ihrer Monographie ›Embodying the Monster‹ eine andere Monsterkonzeption vor:



In place of a morality of principles and rules that speaks to a clear-cut set of binaries setting out the good and the evil, the self and the other, normal and abnormal, the permissible and the prohibited, I turn away from such normative ethics to embrace instead the ambiguity and unpredictability of an openness towards the monstrous other […] to contest the binary that opposes the monstrous to the normal. – Margrit Shildrick, Embodying the Monster: Encounters with the Vulnerable Self, London 2001, S. 3.



Ihrer Ansicht nach ist das Monströse also keinesfalls eine absolute, essentielle und durch binäre Opposition zum Menschlichen gekennzeichnete Kategorie, und diese wichtige Beobachtung bietet auch eine Grundlage für meinen Ansatz.



Monster in den isländischen Sagas

Wie ist das nun in den isländischen Sagas? Wenn wir uns hier auf die monstra der gelehrten Tradition beschränken, sieht der Stoff sehr dünn aus. Nur in Eiríks saga rauða, einer der beiden Vinlandsagas, die die Reise nach Nordamerika und den Besiedlungsversuch einiger Isländer und Grönländer beschreiben, treffen wir einen einfætingr, „Einfuß“ – einen Sciapoden. Dessen Auftauchen zeigt deutlich, dass isländische Sagaschreiber versiert in den gelehrten Traditionen des Kontinents waren und wussten, dass man in solch „exotischen“ und weit entfernten Ländern mit monströsen Wesen rechnen musste. Allerdings ist er in der Gattung der Isländersagas der einzige seiner Art.² Bedeutet das also, dass diese Texte sich nicht mit Monstrosität befassen?



Hier hilft uns ein Blick in indigene, isländische Monsterbezeichnungen weiter. Der wohl am häufigsten gebrauchte Begriff für potentiell monströse Wesen ist troll oder tröll, also Troll.³ Allerdings ist dieser Begriff im Mittelalter weitaus weitläufiger und unschärfer als sein modernes Äquivalent. Wo wir uns heute die Trolle skandinavischer Volksmärchen vorstellen – also Höhlenbewohner, die Menschen auflauern –, sahen mittelalterliche Isländer eine Reihe verschiedener Wesen. Ármann Jakobsson schreibt:



a troll may be a giant or mountain-dweller, a witch, an abnormally strong or large or ugly person, an evil spirit, a ghost, a blámaðr, a magical boar, a heathen demi-god, a demon, a brunnmigi or a berserk.⁴ – Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 52.



Diese Wesen haben alle eins gemein: Sie weichen von einer angenommenen Norm menschlicher Erfahrung ab, in dem meisten Fällen durch einen Übertritt in Dimensionen (wie Magie, Berserkergang, oder gar eine untote Existenz), die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind. Das definiere ich als paranormale Konnotation. Im Folgenden werde ich vor allem diejenigen Trolle diskutieren, die menschlich sind oder es einmal waren: Wiedergänger, Berserker und Zauberkundige. Abschließend will ich kurz auf höhlenbewohnende Trolle und monströse Tiere eingehen.



Abgesehen von ihrem geteilten Zugang zum Paranormalen ist diese Gruppe von möglichen Trollen jedoch so divers, dass sie uns wenig Auskunft darüber geben, was ein Troll eigentlich ist. Was sie uns stattdessen jedoch sagen ist, was ein Troll tut: Ármann hält fest, dass „a troll may be categorized by trollish behaviour“ (Ármann, Trollish Acts, S. 52).



Doch was ist trollisches Verhalten? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns nun endlich einigen Beispielen aus den Sagas zu. Wiedergänger eignen sich hier besonders gut, da sie durch ihren untoten Zustand – durch die Überschreitung einer Grenze, die nie überschritten werden sollte – besonders eindeutig als monströs angesehen werden können. Als Untote sind sie per Definition hybride Wesen, was uns Aufschluss über ihren Zustand gibt. Doch die Bezeichnungen, die wir in den Sagas gewöhnlich für diese Wesen finden, sagen ebenfalls wieder mehr über das aus, was sie tun, als das, was sie sind. So werden sie als reimleikar, „Spuk“, bezeichnet und als aptrgöngur, „Wiedergänger“.⁵



Verhalten ist somit eine Grundlage für Monstrosität in dieser Literatur, und da Verhalten nicht absolut ist, eröffnet sich die Möglichkeit, die Monster der Isländersagas mit Shildricks Konzept von ambiger und fluider Monstrosität zu lesen.





Beginn der ›Viktors saga og Blávus‹, einer Märchensaga (Bildnachweis: AM 471 4to, 96v).



Doch dazu später mehr. Zunächst wollen wir uns ein Beispiel aus der ›Eyrbyggja saga‹ ansehen, einen besonders bösartigen Wiedergänger, um Erkenntnisse über das Verhalten von Monstern oder Trollen zu gewinnen. Und hier finden wir dann auch die versprochenen Wikinger. Denn Þórólfr bægifótr,⁶ einer der drei schlimmsten Untoten der Isländersagas,⁷ fuhr in seiner Jugend zur Wiking, bevor er in Island siedelte.



Das Verhalten, das für ein von Gewalt und Dominanzstreben geprägtes Wikingerleben nötig ist, scheint er allerdings nicht ganz hinter sich lassen zu können: Er erlangt sein Land in Island durch ein Duell mit einem kinderlosen alten Mann. Danach verbringt er sein Leben vor allem damit, seinen Sohn Arnkell zu manipulieren und ihn gegen den machthungrigen Goden Snorri auszuspielen. Im Alter wird Þórólfr immer schwieriger im Umgang. Als Arnkell sein Spiel nicht mehr mitspielen will, stirbt Þórólfr aus Wut und Frustration, aufrecht sitzend und mit offenen Augen. William Sayers sagt dazu, „it is as if he implodes“ (Sayers, Unquiet Dead, S. 250). Arnkell wird gerufen, schließt dem Toten die Augen und bricht die Wand ein, um den Körper hinauszutragen.



Dieses Motiv finden wir auch in ›Egils saga‹ – es sollte wohl dazu dienen, den Toten zu verwirren, damit er, falls er nicht ruhig in seinem Grab liegen bleibt, den Weg zurück nicht mehr finden kann. Arnkells Impuls war der richtige, denn kurz nachdem Þórólfr begraben wurde, erfahren wir, dass Þórólfr lá eigi kyrr („nicht ruhig lag“; ›Eyrbyggja saga‹, S. 93). Er beginnt damit, einen Schafhirten zu plagen, der kurz darauf stirbt – und nun zusammen mit Þórólfr spukt. Selbst seine Witwe lässt Þórólfr nicht in Ruhe, und auch sie erscheint daraufhin in seinem Gefolge. Þórólfr reitet das Dach, tötet Vieh und Diener und macht allen das Leben auf dem Hof unmöglich. Sogar Wildtiere sind nicht vor ihm sicher, und Vögel, die auf seinem Grabhügel landen, sterben sofort. Wir haben es hier mit einer Dimension bösartiger Energie zu tun, die ihres Gleichen sucht. Schlussendlich bleibt Arnkell nichts anderes übrig, als den Leichnam seines Vaters an einem weiter von den Siedlungen entfernten Ort zu begraben. Solange Arnkell am Leben ist, verhält sich Þórólfr ruhig.⁸



Besonders interessant sind hier zwei Aspekte: die Ansteckungskraft des Monsters, und seine Interaktion mit der Gesellschaft, denn beide Aspekte finden sich auch in anderen Wiedergängergeschichten wieder. ›Eyrbyggja saga‹ interessiert sich scheinbar besonders für diese Wesen, denn Þórólfr ist nicht der einzige seiner Art, der in dieser Saga erscheint. Kurz nachdem Þórólfr (zumindest vorläufig) besiegt wird – im Winter nach der Christianisierung des Landes – finden die sogenannten Fróðárundur statt, die Wunder vom Hof Fróðá. Neben einigen anderen Begebenheiten bestehen diese auch aus einer mysteriösen Krankheit, die in mehreren Wellen einen Teil der Bewohner des Hofes tötet. Finden wir hier Parallelen zu unserer eigenen momentanen Situation? Ich hoffe nicht! Denn die Opfer dieser Epidemie kommen kurz darauf alle von den Toten zurück und übernehmen den Hof.



Zu ihnen gesellen sich zudem Ertrunkene, und die beiden Gruppen von Wiedergängern bewerfen sich über das zentrale Feuer hinweg mit Schlamm. Den lebenden Bewohnern bleibt nichts anderes übrig, als sich in einem kleineren Nebengebäude einzurichten. Auch hier machen die anwesenden Wiedergänger also den Alltag der Lebenden unmöglich. Sie nehmen ihnen zwar nicht Leben oder Vieh, sondern Wärme und Licht, doch beides ist im langen isländischen Winter absolut überlebenswichtig. Die Interaktion mit den Lebenden ist hier weniger destruktiv als in Þórólfrs Fall, aber auch diese Wiedergänger sind sehr hartnäckig. Erst eine Kombination aus einem sogenannten Türgericht und Exorzismus – also gesetzlich-soziale und religiöse Maßnahmen – verbannen sie erfolgreich.



Berserker

Monströse Ansteckung – wie schon von Cohen erwähnt – sowie die Disruption des (Über-)Lebens durch das Monster stellen somit im Fall von Wiedergängern zentrale Aspekte von trollischem Verhalten dar. Wie sieht das bei anderen Monstern aus? Berserker, beispielsweise, tauchen meist als Räuber auf, bedrängen Bauern und fordern sie zu Duellen heraus, deren Gewinner nicht nur Kontrolle über den materiellen Besitz des Bauern bekommt, sondern vor allem auch über die Frauen in seiner Familie. Da sie die Fähigkeit besitzen, sich in Berserkerwut zu versetzen – was sie dem Paranormalen nahebringt –, gewinnen sie diese Duelle natürlich in der Regel.



Nur wenn ein Held auftaucht, um sie zu bekämpfen, können sie besiegt werden. Neben dem menschlichen und wirtschaftlichen Schaden, den Berserker anrichten, wenn sie Frauen vergewaltigen, Bauern töten und deren Besitz an sich reißen, ist es vor allem ihre sexuelle Gewalt, die sie so gefährlich macht. Denn durch ihre Vergewaltigung von Frauen riskieren sie die Verbreitung ihrer Monstrosität. So liegt die Fähigkeit, sich in Berserkerwut zu bringen, in der Natur, eðli, eines Menschen,⁹ und diese scheint vererbbar zu sein. In ›Svarfdæla saga‹ entführt Snækollr Ljótsson, der Sohn eines Berserkers, Þórarna, die Schwester von Þorsteinn.¹⁰ Einige Jahre später schickt Þórarna die beiden Kinder, die Snækollr gezeugt hat, zu ihrem Bruder nach Island. Vor allem der Sohn, Klaufi, stellt sich schnell als äußerst problematisch heraus, und Þorsteinn kann ihn bald nicht mehr kontrollieren.



So dauert es nicht lange, bis auch Klaufi das erste Mal zum Berserker wird. Zudem legt auch er sexuell übergriffiges Verhalten an den Tag und bringt mit List die schöne Yngvildr in seine Gewalt. Klaufi ist ein Sonderfall unter den Sagamonstern. Nachdem Yngvildr seinen Tod herbeigeführt hat, bleibt auch er nicht ruhig in seinem Grab liegen, und selbst die Enthauptung seines Leichnams – sonst ein sehr effektives Mittel gegen Wiedergänger – hält ihn nicht davon ab, weiter zu spuken. Erst am Ende der Saga, als sein Körper verbrannt wird, gibt Klaufi endlich Ruhe. Zwischenzeitlich hat er jedoch dafür gesorgt, das soziale Gefüge in Svarfaðardalr zu sprengen. Ansteckung und disruptive Interaktion sind also auch hier Merkmale trollischen, monströsen Verhaltens.



Zauberkundige

Bislang haben wir vor allem Beispiele gesehen, in denen Monstrosität auch körperlich erklärbar ist. Die meisten Wiedergänger sind extrem stark – so stark, dass sie selbst für Grettir, den stärksten Mann Islands, eine Bedrohung darstellen.¹¹ Berserker verfügen ebenfalls über extreme körperliche Kräfte, die sie in der Berserkerwut freisetzen können. Handelt es sich hier also nur um eine weitere Spielart körperlicher Monstrosität, wie Cohen sie beschreibt?



Wenn wir uns einen weiteren menschlichen Trolltypus ansehen, lautet die Antwort ganz klar: nein. Denn Zauberkundige werden körperlich nie näher beschrieben, und in ihrem Fall ist es ihre Kontrolle über paranormale Mächte, die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind, die sie trollisch und monströs macht. Magie funktioniert allerdings etwas anders als die beiden anderen Formen von Monstrosität. Auch wenn wir Familien von Zauberkundigen in den Sagas finden, scheint Magie nicht vererbbar, sondern lernbar zu sein. Um mit dieser Form von „Trollischsein“ angesteckt zu werden, muss also eine gewisse Freiwilligkeit vorliegen. Zudem ist Magie selbst nicht unbedingt negativ konnotiert – es ist eher die Frage, wofür man sie einsetzt.¹²



Dennoch werden Zauberkundige immer mit Skepsis und Ambivalenz behandelt, und das scheint berechtigt, denn wir finden in den Sagas kaum Beispiele positiver Magie. Stattdessen sind Geschichten wie die der Familie von Kotkell, Gríma und ihren Söhnen typisch, die wir in ›Laxdæla saga‹ finden. Diese vier Zauberkundigen stehlen von den örtlichen Bauern, die aber wegen der paranormalen Kräfte der Familie nicht an sie herankommen. Mit diesen Kräften erreichen sie auch, dass der Gode der Region seine schützende Hand über sie hält, denn zum Ausgleich unterstützen sie ihn.



Erst als sie mit Magie den jüngsten Sohn eines einflussreichen Mannes umbringen, scheint eine Grenze überschritten: Alle vier werden exekutiert. Einer der beiden Söhne, Stígandi, schafft es jedoch, vor seiner Hinrichtung einen fruchtbaren Hang zu verfluchen, der seitdem brach liegt. Auch hier sehen wir also wieder die Macht monströser Interaktion und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Disruptivität ihrer Handlungen.



Da gesellschaftliche Transgression und Disruption sowie Ansteckung die Hauptmerkmale dieser Form des „Trollischseins“ sind, spreche ich auch von sozialer Monstrosität – das heißt, Monstrosität am Rande von und gegen die Gesellschaft. Das baut schlussendlich auf Jennifer Nevilles Beobachtungen zu Monstrosität in der altenglischen Literatur auf. Sie stellt fest:



Monsters intrude into and threaten human society. This is important: monsters do not threaten individuals only, but society as a whole. – Jennifer Neville, Monsters and Criminals: Defining Humanity in Old English Poetry, in: K.E. Olsen / L.A.J.R Houwen (Hrsg.), Monsters and the Monstrous in Medieval Northwest Europe, Leuven 2001, S. 112.



In diesen Literaturen gilt: Menschlich ist, wer sich menschlich verhält. Wer hingegen seine paranormalen Kräfte gegen die Gesellschaft einsetzt, wird zum Troll.



Doch woher wissen wir eigentlich, dass wir bei diesen Wesen wirklich von Monstrosität sprechen können? Nur die Zuschreibung des Begriffs „Troll“ ist vielleicht nicht ausreichend. Zudem stellt Asa Simon Mittman fest:



[A] monster is not really known through observation; how could it be? How could the viewer distinguish between “normally” terrifying phenomena and abnormally terrifying monstrosity? Rather, I submit, the monster is known through its effect, its impact. – Asa Simon Mittman, Introduction: The Impact of Monsters and Monster Studies, in: Asa Simon Mittman / Peter J. Dendle (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous, Farnham 2012, S. 6.



Wir müssen also den Effekt des Monsters auf die von ihm betroffenen Menschen untersuchen. Hierfür eignet sich in den Isländersagas die allgegenwärtige öffentliche Meinung, die regelmäßig die Taten und Eigenschaften von Figuren innerhalb der Erzählwelt der Sagas bewertet. Ein Beispiel für diese Bewertung potentiell monströser Figuren ist die Szene, in der Þórólfr das erste Mal wiedergeht:



Eptir dauða Þórólfs bægifóts þótti mǫrgum mǫnnum verra úti þegar er sólina lægði. En er á leið sumarit, urðu menn þess varir að Þórólfr lá eigi kyrr; máttu menn þá aldri í friði úti vera þegar er sól settisk. […] Svá gerðisk mikill gangr at þessu, at engi maðr þorði at beita upp í dalinn. Opt heyrðu menn úti dunur miklar um nætr í Hvammi; urðu menn ok þess varir, at opt var riðit skálanum. – Eyrbyggja saga, S. 93.



Nach dem Tod Þórólfrs schien es vielen Menschen, dass es schlecht sei, nach Sonnenuntergang draußen zu sein. Und als der Sommer verging, bemerkten die Leute, dass Þórólfr nicht ruhig lag. Die Menschen konnten auch nie nach Sonnenuntergang in Frieden draußen sein. […] So schlimm wurde seine Wiedergängerei, dass kein Mensch es wagte, sein Vieh weiter oben im Tal grasen zu lassen. Oft hörten die Leute in der Nacht laute Geräusche beim Hof Hvammr. Sie bemerkten auch, dass die Halle oft geritten wurde. – Übersetzung Rebecca Merkelbach.



Der Fokus auf die Wahrnehmung der Menschen ist offensichtlich: Wir sehen die ganze Szene durch ihre Augen, nehmen an ihrer Angst teil. Ähnliche Szenen, in denen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit fokussiert werden, gibt es im Kontext der meisten anderen Trolle und Monster ebenfalls – nur bei Zauberkundigen ist die Bewertung teilweise ambivalenter.¹³ Doch wenn Monstrosität generell von Verhalten und dessen Bewertung abhängt, ist es, wie Shildrick vorschlägt, keine absolute Größe. Stattdessen scheint es so, als operiere die soziale Monstrosität der Isländersagas auf einer Skala, einem Spektrum unterschiedlicher Aktionen und Interaktionen, die wiederum unterschiedlich bewertet werden.



Ich konnte hier nur einige Beobachtungen zur sozialen Monstrosität, wie sie in den Isländersagas dargestellt wird, darlegen und mit wenigen Beispielen erläutern. Wer gerne noch mehr zu Trollen und den Monstern der Sagas erfahren will, dem empfehle ich die Arbeiten von Ármann Jakobsson (vor allem seine Monographie ›The Troll Inside You‹) sowie mein eigenes Buch ›Monsters in Society‹, in dem ich auch versuche, die Frage zu beantworten, warum mittelalterliche Isländer so von diesen monströsen Figuren fasziniert waren.



Abschließend möchte ich aber noch auf höhlenbewohnende Trolle und monströse Tiere zu sprechen kommen, denn auch diese Spielarten des Monströsen finden wir in den Isländersagas. Als einzige Saga ist ›Bárðar saga Snæfellsáss‹ aus der Perspektive von Trollen geschrieben. Ihr Held und seine Nachkommen sind alle Trolle, die versuchen müssen, sich in der Welt der Menschen zurecht zu finden. Allerdings scheitern sie am Ende an ihrer Aufgabe: Bárðr tötet seinen Sohn Gestr, weil dieser zum Christentum übertritt, und die Tochter Helga verschwindet ganz aus der Erzählung.



Diese Trolle werden natürlich um einiges sympathischer dargestellt als dies in anderen Isländer- und Vorzeitsagas der Fall ist, und ihre Geschichte ist, in ihrer Tragik, nicht beispielhaft für die Darstellung höhlenbewohnender Trolle in der Sagaliteratur. Meistens treten sie als Antagonisten von Sagahelden auf, und ihre extreme Darstellung entbehrt nicht einer gewissen Komik. Gerade Trollfrauen sind in ihrer Körperlichkeit und offensichtlich sexualisierten Darstellung von besonderem Interesse.¹⁴



Monströse Tiere treten seltener auf als höhlenbewohnende Trolle und Riesen. In ›Finnboga saga‹ finden wir allerdings einen Bären, der wegen seiner disruptiven Interaktion sogar zum Geächteten erklärt wird. Ihm wird also eine beinah monströse agency zugeschrieben, die wir bei wilden Tieren sonst selten finden, und in seiner Interaktion mit dem Sagahelden Finnbogi zeigt er sich so auch sehr anthropomorph. Eindeutiger sind jedoch Drachen, die wir nicht nur aus der nordischen Mythologie kennen.



Fáfnir ist vielleicht der Urvater all derer, die sich aus Habgier auf ihr Gold legen und in Drachen verwandeln, doch ähnliche Fälle finden wir auch in anderen Gattungen der mittelalterlichen isländischen Literatur – und diese finden dann ihren Weg in die Isländersagas. In ›Hálfdanar saga Eysteinssonar‹, einer Vorzeitsaga, verwandeln sich Valr und seine Söhne Köttr und Kisi auf die übliche Art in Drachen.¹⁵ Die Isländersaga ›Gull-Þóris saga‹ berichtet dann, wie der Isländer Þórir nach Norwegen reist und diese Drachen bekämpft. Doch der Gewinn von Drachengold scheint auch für Þórir nicht ohne Konsequenzen zu bleiben, denn am Ende seiner Saga wird berichtet, dass er sich wohl ebenfalls auf seine Goldkisten gelegt hat. Seitdem sehen Menschen manchmal einen Drachen über den Westfjorden kreisen.



Fazit

Monstrosität in den Isländersagas ist also mehr als nur Trolle und Wikinger, auch wenn diese die Grundlage bieten. Sie ist komplex, vielschichtig und tritt in ganz unterschiedlichen Formen, Wesen und Eigenschaften auf. Ihre soziale Dimension ist vielleicht nicht überraschend in einer Gattung, die für ihren anscheinenden Sozialrealismus bekannt ist. Das Monströse ist somit Teil des narrativen Gefüges, der Erzählwelt der Isländersagas. Doch auch darüber hinaus finden wir Monster: Die Vorzeitsagas sind reich an Trollen, Drachen, Berserkern und heidnischen Göttern, während rassifizierte Monster wie die blámenn vor allem in Märchensagas häufiger auftreten. Ob diese auch im Rahmen meiner Überlegungen zu sozialer Monstrosität gelesen werden können, muss aber noch untersucht werden.



Abschließend bleibt die Frage: Gibt es Monster wirklich? Ich antworte mit Cohen: „Surely they must, for if they did not, how could we?“ (Cohen, Monster Culture, S. 20) Monster sind unsere Gegenstücke, die Externalisierung all dessen, das wir fürchten und aus unserer eigenen Natur verbannen wollen. Ich hoffe deshalb, dass der Umgang mit den Monstern früherer Zeiten und anderer Kulturen uns auch ermöglicht, unsere eigenen Monster kennenzulernen, zu bekämpfen, und zu überwinden.



Literatur



Primärliteratur

Eyrbyggja saga, in: Íslenzk fornrit IV, hrsg. von Einar Ól. Sveinsson / Matthías Þórðarson, Reykjavík 1935.

Vatnsdœla saga, in: Íslenzk fornrit VIII, hrsg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1939.

Isländersagas, 5 Bände, hrsg. von Klaus Böldl, Frankfurt am Main 2011.

The Complete Sagas of Icelanders, 5 Bände, hrsg. von Viðar Hreinsson, Reykjavík 1997.



Sekundärliteratur

Ármann Jakobsson, The Trollish Acts of Þorgrímr the Witch: The Meanings of troll and ergi in Medieval Iceland, in: Saga-Book 32 (2008), S. 39-68.

Ders., The Troll Inside You: Paranormal Activity in the Medieval North, punctum books 2017.

Arngrímur Vídalín, The Man Who Seemed Like a Troll: Racism in Old Norse Literature, in: Rebecca Merkelbach / Gwendolyne Knight (Hrsg.), Margins, Monsters, Deviants: Alterities in Old Norse Literature and Culture, Turnout 2020, S. 215-238.

Margaret Clunies Ross, The Cambridge Introduction to the Old Norse-Icelandic Saga, Cambridge 2010.

Jeffrey Jerome Cohen, Monster Culture (Seven Theses), in: Ders. (Hrsg.) Monster Theory: Reading Culture, Minneapolis 1996, S. 3-25.

John Block Friedman, The Monstrous Races in Medieval Art and Thought, Cambridge, Mass. 1981.

Jóhanna Katrín Friðriksdóttir, Women in Old Norse Literature: Bodies, Words, and Power, New York 2013.

Hendrik Lambertus, Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern: Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur, Tübingen / Basel 2013.

John Lindow, Trolls: An Unnatural History, London 2014.

Rebecca Merkelbach, Volkes Stimme: Interaktion als Dialog in der Konstruktion sozialer Monstrosität in den Isländersagas, in: Monika Unzeitig / Nine Miedema / Angela Schrott (Hrsg.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2017, S. 251-275.

Dies., Monsters in Society: Transgression, Alterity, and the Use of the Past in Medieval Iceland, Kalamazoo / Berlin 2019.

Asa Simon Mittman, Introduction: The Impact of Monsters and Monster Studies, in: Asa Simon Mittman / Peter J. Dendle (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous, Farnham 2012, S. 1-14.

Jennifer Neville, Monsters and Criminals: Defining Humanity in Old English Poetry, in: K.E. Olsen / L.A.J.R Houwen (Hrsg.), Monsters and the Monstrous in Medieval Northwest Europe, Leuven 2001, S. 103-122.

William Sayers, The Alien and Alienated as Unquiet Dead in the Sagas of the Icelanders, in: Jeffrey Jerome Cohen (Hrsg.), Monster Theory: Reading Culture, Minneapolis 1996, S. 242-263.

Margrit Shildrick, Embodying the Monster: Encounters with the Vulnerable Self, London 2001.



Literaturverweise

[1] Die Sagas existieren in verschiedenen Gattungen: Isländersagas handeln von der Besiedlung und Gründung Islands im 9. bis 11. Jh.; Vorzeitsagas spielen in Kontinentalskandinavien, dem Baltikum und den britischen Inseln in einer grauen Vorzeit; Märchensagas sind beeinflusst von höfischen Traditionen und deshalb in Europa, Asien und Afrika angesiedelt; Königssagas erzählen die Geschichten der norwegischen Könige. Alle Sagas entstehen ab ca. dem 12. Jh., die Isländersagas v.a. zwischen dem 13. und 15. Jh. Mit ihnen werden wir uns hier hauptsächlich befassen.

[2] In ›Yngvars saga víðförla‹, die den Vorzeitsagas zugerechnet wird, findet man noch andere Monster aus der gelehrten Tradition, wie z.B. Zyklopen.

[3] Andere Begriffe sind dólgr und óvættr, die man beide mit Ungetüm übersetzen kann.

[4] Als blámaðr, wortwörtlich „schwarzer Mann“, werden zumeist Figuren bezeichnet, die sowohl rassifiziert als auch paranormal konnotiert sind. Sie tragen also verschiedene Merkmale der Monstrosität. Zu ihnen vgl. die Publikation von Arngrímur Vídalín im Literaturverzeichnis.

[5] Die Forschung hat sie häufig als draugar bezeichnet (Sg. draugr), aber dieser Begriff wird in der Sagaliteratur sehr selten verwendet und sollte deshalb vermieden werden. Seine häufige Verwendung, die sich mittlerweile auch in der Populärkultur wiederfindet (vgl. die Draugr in ›The Elder Scrolls V: Skyrim‹), liegt sicherlich daran, dass draugur im modernen Isländischen „Geist“ oder „Untoter“ bedeutet.

[6] „Krummbein“; er erhielt diesen Beinamen, nachdem eine Duellverletzung nicht richtig verheilte.

[7] Die anderen sind Víga-Hrappr Sumarliðason in ›Laxdæla saga‹ und Glámr in ›Grettis saga‹.

[8] Nachdem der Gode Snorri Arnkell hat töten lassen, fängt Þórólfr wieder an zu spuken. Der Bauer Þóróddr verbrennt den unverwesten Körper des Wiedergängers, doch dabei wird einige Asche gegen einen Stein geblasen. Eine Kuh leckt die Asche auf und gebiert kurz darauf ein extrem großes Kalb. Die alte Pflegemutter des Bauern warnt ihn, dass dieses Kalb trollisch ist, doch er hört nicht auf sie. Aus Gier zieht er das Kalb groß, doch es wird mit der Zeit immer schwieriger zu kontrollieren. Schlussendlich tötet es Þóroddr und versinkt in einem Sumpf – erst das ist das wirkliche Ende von Þórólfr.

[9] So in ›Eyrbyggja saga‹, S. 61, und ›Vatnsdæla saga‹, S. 97.

[10] Snækollr selbst wird nie als Berserker bezeichnet, aber da seine männlichen Verwandten Berserkerwut zeigen, ist anzunehmen, dass Klaufi daher diese paranormale Fähigkeit hat.

[11] Grettir kämpft mit vielen verschiedenen Monstern – Wiedergängern, Berserkern, und Trollen – und man könnte ihn fast als professionellen Monsterjäger bezeichnen. Glámr, einer der oben beschriebenen bösartigen Wiedergänger, schafft es dennoch, Grettir fast zu überwältigen und ihn in einem schwachen Moment zu verfluchen.

[12] Divinatorische Magie, also Magie, die für Zukunftsvorhersagen gebraucht wird, wird meist sehr positiv dargestellt, wie beispielsweise in ›Eiríks saga rauða‹. Es ist effikatorische Magie, also Magie, die eine Zustandsveränderung beabsichtigt, die zu problematischen Zwecken eingesetzt wird.

[13] Vgl. hierzu meinen Aufsatz Rebecca Merkelbach, Volkes Stimme: Interaktion als Dialog in der Konstruktion sozialer Monstrosität in den Isländersagas, in: Monika Unzeitig / Nine Miedema / Angela Schrott (Hrsg.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2017, S. 251-275.

[14] Ich verweise hierzu auf die Monographie Jóhanna Katrín Friðriksdóttir, Women in Old Norse Literature: Bodies, Words, and Power, New York 2013.

[15] köttr und kisi, Katze und Kätzchen.