„Wikinger“ in der altnordischen Literatur
Der heutigen allgemeinen Auffassung nach sind Wikinger gleichbedeutend mit den Bewohnern Skandinaviens während der sogenannten Wikingerzeit (8.-11. Jh., üblicherweise datiert vom Überfall auf das Kloster Lindisfarne im Jahre 793 bis zur Schlacht von Stamford Bridge in 1066 datiert). Doch waren alle Skandinavier Wikinger? Haben sie sich selbst so bezeichnet? Was bedeutet die Bezeichnung überhaupt? Im Folgenden werfen wir einen Blick auf das altnordische Wort víkingr und erkunden, welches Bild sich uns in der mittelalterlichen Literatur Skandinaviens darbietet, die eine der wichtigsten Quellen für das Mittelalter im Norden darstellt.
Die Herkunft des altnordischen Wortes víkingr ist unklar und unter Forschern umstritten. Es wurde mit dem Substantiv vík („Bucht“) bzw. dem Eigennamen Vík, das die Gegend des Oslofjordes bezeichnet, in Zusammenhang gesetzt. Demzufolge würde es sich auf jemanden beziehen, der sich in Buchten aufhält oder aus dem Oslofjord stammt. Es könnte aber auch eine Verbindung mit dem altenglischen wīc bestehen, das sich aus dem lateinischen vicus („Dorf“, „Siedlung“) herleitet.¹ Das Wort ist älter als die Wikingerzeit, aber aufgrund der sporadischen Quellen lässt sich die ursprüngliche Bedeutung nicht sicher erschließen.
Die frühesten schriftlichen Belege stammen aus der Wikingerzeit: Inschriften auf Runensteinen und skaldische Dichtung, komplexe Lobgedichte, die von Skalden an norwegischen Königshöfen komponiert wurden. In diesen zeitgenössischen Quellen finden wir oft das feminine Substantiv víking, das sich auf die Tätigkeit, die eigentliche Wikingerfahrt bezieht. So steht auf dem Runenstein DR 334 (in Västra Strö, Skåne, Schweden): „Faðir lét hǫggva rúnar þessar eptir Ǫzur, bróður sinn, er norðr varð dauðr í víkingu“, also „Faðir (hier ein Eigenname) hat diese Runen schnitzen lassen als Erinnerung an Ǫzur, seinen Bruder, der während einer Wikingerfahrt im Norden gestorben ist.“² Runensteine wurden eben oft als Erinnerung an verstorbene Familienmitglieder oder Gefährten aufgerichtet. Derselbe Faðir ließ auch einen weiteren Stein aufrichten (DR 335), diesmal für Bjǫrn „er skip átti með honum“ („mit dem er ein Schiff besaß“)³.
Das maskuline Substantiv víkingr kommt in den Runeninschriften interessanterweise am häufigsten als Eigenname vor. Manche haben sich jedoch tatsächlich als Wikinger identifiziert, wie zum Beispiel ein gewisser Tóki. Dieser ließ einen Runenstein in Erinnerung auf Gunnar, den Sohn von Grímr aufrichten, und nannte sich selbst „Tóki víkingr“ (d.h. Tóki der Wikinger). Dies deutet wohl darauf hin, dass er bereist war und für seine Wikingerfahrten in der Gemeinschaft bekannt war – vielleicht war Gunnar, für den er den Stein aufrichten ließ, sein Reisegefährte, der nicht mehr zurückgekehrt ist?
Der von Tóki gesetzte Runenstein vor der Domkirche in Växjö (Småland, Schweden). Die Inschrift lautet: „Tóki – Tóki víkingr – reisti stein eptir Gunnar, sun Gríms. Guð hiápi sálu hans!“⁴ d.h. „Tóki – Tóki der Wikinger – richtete den Stein in Erinnerung an Gunnar, den Sohn von Grímr. Gott helfe seiner Seele!“
Runeninschriften sind zwar als zeitgenössische Quellen wertvoll, doch sie sind bis auf einige Ausnahmen knapp und relativ gleichförmig: in Stein zu ritzen war aufwendig und für längere Texte unpraktisch. Dichtung, Geschichten, Mythen, aber auch Gesetze und Genealogien wurden memoriert und mündlich überliefert. Erst die Aufnahme des Christentums um die Jahrtausendwende brachte das lateinische Alphabet und Schriftkultur mit sich. Vor allem in Island führte dies zum Aufblühen des Schrifttums: dort produzierte Handschriften wurden im Mittelalter sogar nach Norwegen exportiert,⁵ und der Großteil der bis heute überlieferten altnordischer Literatur ist in isländischen Handschriften bewahrt.
Neben den mythologischen Erzählungen der Eddas gehören Sagas wohl zu den bekanntesten Gattungen altnordischer Literatur. Der Begriff Saga leitet sich von dem altnordischen Verb segja („sagen, erzählen“) ab und umfasst eine Vielfalt von Genres, die sich thematisch und stilistisch voneinander unterscheiden. Viele Sagas bearbeiten einheimisches Material aus Island und Skandinavien. Die Entwicklung der Sagaliteratur wurde jedoch auch stark von kontinentaler Literatur beeinflusst: Die im 11. und 12. Jh. übersetzten Heiligenlegenden (isl. heilagra manna sögur) gehören zu den frühesten der Gattung und prägten wesentlich die Entwicklung des sogenannten Saga-Stils.⁶
Der Wikingerzeit wird vor allem in Königssagas, Isländersagas und Vorzeitsagas behandelt, welche die historische sowie legendäre Vergangenheit Islands und Skandinaviens bearbeiten. Dies, verbunden mit der Annahme, dass die Texte auf mündlicher Überlieferung basieren, führte dazu, dass sie in älterer Forschung als historische Quellen zur Wikingerzeit betrachtet wurden. Zwischen den dargestellten Ereignissen und der Schreibzeit liegen jedoch mindestens 300 Jahre, und der historische Kern ist lediglich ein Element der literarischen Erzählung – und oft nicht mehr recht greifbar.
Im Mittelalter waren Geschichtsschreibung und Literatur nämlich nicht so klar getrennt wie heute – diese Ambivalenz ist auch in dem Wort Saga beinhaltet, welches auf Isländisch bis heute sowohl „Geschichte“ als auch „Erzählung“ bedeutet. Moderne Forschung betrachtet die Sagas also eher als Quelle dafür, wie sich Isländer im Hochmittelalter die eigene Vergangenheit vorgestellt haben.⁷
Die Flateyjarbók (GKS 1005 fol.), zwischen 1387-1394 geschrieben, gehört zu den größten Pergamenthandschriften Islands und beinhaltet eine Sammlung vorwiegend Königssagas. Die Handschrift ist für isländische Verhältnisse prachtvoll dekoriert: Auf dem Bild zu sehen ist die Initiale, die den Anfang der Ólafs saga Tryggvasonar bildet. Nach einer kriegerischen Jugend setzte sich der norwegische König Ólafr (968-1000) für die Christianisierung Islands und Norwegens ein.
Wie begegnen wir also Wikingern in den Sagas? Ähnlich wie in den Runeninschriften kommt in den Sagas beides die Personenbezeichnung víkingr sowie die Tätigkeit fara í víking vor. Die Wikingerfahrt wird größtenteils positiv oder neutral dargestellt – einige Sagas erwähnen, dass Charaktere während des Sommers í víking gefahren sind, um Reichtum zu erwerben (siehe z. B. Egils saga, Kap. 1). Man würde natürlich erwarten, dass dieselben unsere Saga-Wikinger sein werden, doch die Helden werden selten als solche bezeichnet.
Ganz im Gegenteil treten víkingar besonders in den Köningssagas und Vorzeitsagas gerne als die Gegner auf, gegen die gekämpft wird, wobei sie oft als nicht näher bestimmte Gruppe dargestellt werden. Je nachdem, wo sich die Handlung abspielt, sind die víkingar nicht unbedingt immer Skandinavier. Gemeinsam haben jedoch die meisten, dass sie auf Schiffen unterwegs und kriegerisch sind – das Wort wird in Sinne von “Seeräuber, Pirat“ benutzt. In den Isländersagas hat die Bezeichnung eine ausdrücklich negative Konnotation bekommen. Charaktere die als solche bezeichnet werden, sind oft bösartig und unruhestiftend. Als Beispiel können wir Þórólfr bægifótr aus der Eyrbyggja saga nennen, der als „víkingr mikill“ („ein großer Wikinger“) vorgestellt wird. Þórólfr erweist sich als gewalttätig, er stiftet Konflikte, und sogar nach seinem Tod bleibt er problematisch – er kehrt als Wiedergänger zurück, greift Menschen an, tötet Tiere und verwüstet die Höfe in der Gegend.
Der Isländer Egill Skallagrímsson wie er in der Handschrift AM 426 fol, 2v (1670-1682) dargestellt wurde. Seine Saga beschreibt Egils zahlreichen Abenteurer in Norwegen und den Britischen Inseln. Als Egill im Alter von sieben Jahren bei einem Ballspiel einen anderen Jungen tötet, konstatiert seine Mutter, dass er „víkingsefni“ sei, wörtlich „Wiking-Anwärter“ (Kap. 40). In der Saga ist eine ambivalente Haltung spürbar: Egill ist ein außergewöhnlicher Krieger und Dichter und seine Abenteuer im Ausland werden bewundert, doch in der isländischen Bauergesellschaft ist seine aggressive Persönlichkeit destruktiv.
Aus den schriftlichen Quellen ist es eindeutig, dass „Wikinger“ eher eine Tätigkeit als eine Identität darstellte, und demzufolge nicht als Bezeichnung für eine Bevölkerungsgruppe aufzufassen ist. Nur ein Bruchteil der Einwohner Skandinaviens zog auf Wikingerfahrten, um vorübergehende kriegerische Tätigkeit und Handel zu betreiben. Besonders in der Literatur des Hochmittelalters ist es dabei auffallend, dass „Wikinger“ nur selten die eigentlichen Helden bezeichnet und eher für Gegner und Antagonisten reserviert ist.
Übersicht über Sagagenres
Heilagra manna sögur (Sagas über Heilige) sind altnordische Übersetzungen kontinentaler Heiligenlegenden
Konungasögur (Königssagas) erzählen hauptsächlich über norwegische Könige
Fornaldarsögur (Vorzeitsagas) erzählen über Skandinaviens legendäre Vorzeit
Íslendingasögur (Isländersagas) behandeln Ereignisse in Island von der Besiedlung bis zum 11. Jh.
Biskupasögur (Sagas über Bischöfe) handeln von isländischen Bischöfen
Samtíðarsögur (zeitgenössische Sagas) sind hauptsächlich in der Kompilation Sturlungensaga überliefert und behandeln die Machtkämpfe in Island im 12. und 13. Jh.
Riddarasögur (Rittersagas) umfassen die im 13. Jh. übersetzte höfische Literatur sowie die davon inspirierten isländischen Märchensagas
Literatur
[1] Vgl. Jan De Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. Leiden 1977, S. 715-716.
[2] Danske Runeindskrifter, http://runer.ku.dk/VisGenstand.aspx?Titel=Västra_Strö-sten_1.
[3] Danske Runeindskrifter, http://runer.ku.dk/VisGenstand.aspx?Titel=Västra_Strö-sten_2.
[4] Ragnar Kinander, Smålands Runinskrifter. Sveriges runinskrifter, Bd. 4. Stockholm 1935-61 (= Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien), S. 55-58.
[5] Stefán Karlsson, Islandsk bogeksport til Norge i middelalderen, in: Maal og Minne 1979, S. 1-17.
[6] Gabriel Turville-Petre, Origins of Icelandic Literature, Oxford 1953.
[7] Ralph O’Connor, History and Fiction, in: The Routledge Research Companion to the Medieval Icelandic Sagas, red. von Ármann Jakobsson / Sverrir Jakobsson, London 2017, S. 88-110.