Der Zeh
Verschwunden. Einfach verschwunden war der große Zeh. Nachdenklich kratzte Guillaume sich den tonsurierten Kopf. Verschwunden war der Zeh und er hatte ihn verloren. Noch einmal sah er in das kleine Reliquienkästchen, aus dem ihn nichts als roter Samtstoff verhöhnte. Das Kapitel würde ihn aus dem Orden werfen! Ihn hatte der Abt beauftragt, den kostbaren Zeh in die Kapelle zu bringen, wo er in einem eigens angefertigten Reliquiar zur Schau gestellt werden sollte. Bruder Benoît hatte Wochen damit verbracht, die Steine in die aufwändige Metallarbeit zu fügen. Nur das Herzstück war plötzlich nicht mehr auffindbar: der Zeh. Die ganze Kapelle hatte er bereits abgesucht und fand ihn nirgends! Hatte er ihn übersehen? Unwahrscheinlich, bei so einem imposanten Zeh. Groß und gut zu Fuß musste er gewesen, der Heilige Nikolaus von Myra.
Gemeinsam mit dem Abt hatte er den Zeh bestaunt, als sie das Kästchen öffneten, in dem die kostspielige Anschaffung aus Ephesos verwahrt war. Die Urkunde des venezianischen Händlers, welche die Echtheit der Reliquie bezeugte, hatten sie aufgeregt studiert und die schön-gefällige Schrift bewundert. Nach einem letzten ehrfurchtsvollen Blick ins Innere des Kästchens hatte der Abt den Deckel zugeschlagen und ihm aufgetragen, den Zeh an seinen bestimmten Ruheort in der Nikolauskapelle zu tragen, wo das Reliquiar bereits auf die morgige Einsegnungszeremonie wartete. Dort angekommen hatte er den Deckel gehoben und fand: Nichts.
Angestrengt kratzte er sich die Nase. Rauch. Es roch nach Rauch. Hatte er heute mit dem Schürhaken am Feuer hantiert? Eine Kerze mit den Fingerspitzen gelöscht? Nein, seine Hände waren es nicht und die Kerzen, die er selbst angezündet hatte, brannten alle hell. Ein Schrei aus der Richtung des Kreuzgangs weckte ihn aus seiner Grübelei: „Feuer! Feuer!“. Erschrocken hastete er zum Nordportal hinaus. Orangenes Licht im linken Augenwinkel bestätigte seine Befürchtung. Die Sakristei brannte lichterloh. Bruder Benoît und Bruder Chardon stürmten im letzten Augenblick mit dem Tabernakel heraus:
„Der Leib, wir haben den Leib gerettet!“, proklamierten sie schwer atmend. Andere schleppten große Wassereimer herbei, doch der Kampf schien schon verloren. Mit Entsetzen sah er zu, wie die Flammen auf das Dach des östlichen Schiffes übergriffen und bald auch das Innere der Kirche verheeren würden. Vor wenigen Jahren hatten die Brüder noch alles dafür getan, um die Kirche mit Schaufeln und Wällen vor einem Hochwasser zu bewahren. Nun raffte sie ein anderes Element dahin.
Doch was, wenn der Zeh noch in der Kirche war? Würde die Feuersbrunst auch ihn zu Asche verbrennen? Wahrscheinlich nicht. Was würden seine Mitbrüder sagen, wenn sie zwischen den Überresten des Reliquiars kein Knöchelchen entdecken würden? Geistesgegenwärtig rannte er zum Westportal, um einen letzten Verzweifelten Blick ins Innere zu werfen. Als er die schwere Tür aufzog, stürmte ihm etwas aus der Kirche entgegen. Ein Schwein! Im großen Tumult musste es den Laienbrüdern entlaufen sein. Dem Feuer entkommen blieb es neben Guillaume stehen und sah ihn fast spöttisch an. Da traf es ihn wie der Blitz. Die Sau kaute angestrengt auf etwas herum! Sofort stürzte er nach vorne, um den Schlund des Tieres zu öffnen, doch das Schwein nahm sofort Reißaus. Guillaume nahm die Verfolgung auf.
Grunzend flüchtete das Tier über den Hof und durch die Tür direkt ins Skriptorium, wo es zwischen den Schreibpulten verschwand. Guillaume ließ seinen Blick umherschweifen und bemerkte, dass zwischen den Pulten etwas lag, und zwar nicht das Schwein! Er sah sofort, dass es der Novize Gillebert war, der zuckend auf dem Boden lag, während ihm Schaum aus dem Mund lief. Das St. Johannes-Übel war über ihn gekommen, das ihn schon seit vielen Jahren plagte und ihn schließlich zum Eintritt in den Orden bewegt hatte. Sofort räumte Guillaume die umliegenden Pulte beiseite, sodass sich der zuckende Gillebert nicht selbst verletzten konnte. Dann sprach er ein Stoßgebet zum heiligen Johannes, worauf jener sich sichtlich beruhigte.
„Danke“, Guillaume, „du hast mich gerettet.“ hustete er. „Ich war noch hier um weiter Schreiben zu üben, als plötzlich alle weg waren. „Da hast du wohl recht, denn außer dir war wegen des Feuers sonst niemand im Skriptorium“, antwortete er. „Wieso bist du gerade jetzt hereingekommen?“, fragte Gillebert. Da kam das Schwein angelaufen und spuckte trotzig ein dickes Knöchelchen auf den Boden. „Ach weißt du, Gillebert,“ hob er an, „die Kirche hat der Heilige Nikolaus zwar nicht gerettet, aber er ist ja auch der Beschützer der Scholaren.“
Disclaimer: Diese Kurzgeschichte ist entstanden im Rahmen eines Schreibworkshops des Arbeitskreises Critical Medievalism der Universität Freiburg. Ziel des Schreibworkshop war es, innerhalb von etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte zu verfassen.