Si quaeris miracula

Es sollte ein Geheimnis bleiben. Niemand sollte davon erfahren. Doch in einem Kloster ist letzten Endes das einzige Geheimnis das des Glaubens. Entsprechend dauerte es kaum von einem Stundengebet zum nächsten, bis jeder einzelne Mönch wusste, dass etwas geschehen war. In kleinen Gruppen tuschelten sie auf dem Hof, in der Schreibstube, im Garten, und, was noch schlimmer war, manchmal konnte man jemanden kichern hören. Wie konnte es passiert sein? War Absicht im Spiel? Und diese Fragen drehten sich bald zu „War es einer von uns?“



Der Grund für den Aufruhr: Eines der Herzstücke der Abtei, eine Reliquie des Heiligen Antonius selbst, war nicht mehr aufzufinden. Nur der Fingerknochen, wohlgemerkt. Als der Abt beim Ausbruch des Feuers auf der Baustelle todesmutig in die Sakristei gestürmt war, hatte er sich vielleicht schon glücklich geschätzt, das Reliquiar scheinbar unversehrt aus den Flammen bergen zu können. Erst am nächsten Tag hatte man aus der Kapelle plötzlich einen Schrei vernommen, bei dem sich ein jeder Bruder instinktiv bekreuzigte.



Man schickte nach dem Prior, um den völlig aufgelösten Abt zu beruhigen, und dieser wiederum nach einem Becher Wein, bevor der Vater endlich zu einer Aussage fähig war – einer geflüsterten, und doch schienen die Stimmen von den Wänden der Kammer, in die sich die beiden zurückgezogen hatten, endlos widerzuhallen, wenn man das Ohr an die Tür drückte.



Was den Abt so aus der Fassung gebracht hatte, war, dass auch das Stück geschliffenen Bergkristalls, hinter dem der Fingerknochen sicher verwahrt sein sollte, aus der Fassung gebrochen worden war – und von Antonius fehlte jede Spur.



Ob Fenster und Finger erst seit dem Feuer fehlten, wurde in der Kammer in Frage gestellt. Das Reliquiar sollte eigentlich im nächsten Jahr mit Fertigstellung der Westkapelle des heiligen Michael (erbaut mit neuestem langgestrecktem Maßwerk) dorthin umziehen und war in letzter Zeit nicht gezeigt worden.



Auch der Prior hatte sich an dem Unglückstag mit heldenhaftem Einsatz in die Flammen gestürzt und die Monstranz, in sein Hemd gewickelt, vor jedem Schaden bewahrt. Wenigstens der Leib des HERRN war dem Kloster geblieben, wenngleich böse Zungen sagten, davon gebe der HERR ja bei jeder Messe, der Heilige habe aber nur zehn Finger gehabt.



Wie nun die Nachricht vom Verlust der Reliquie das Kloster erschütterte wie ein Erdbeben, verbreiteten sich in Windeseile wildeste Gerüchte. Zufall wurde in Betracht gezogen und verworfen. Abt und Prior hatte man auffällig unauffällig den Hof absuchen sehen, aber offiziell verlautet wurde nur eine Sache: Aus Dank, dass das Feuer keine Leben gekostet hatte, und in Demut vor diesem Himmelszeichen sollte nun in steter Andacht immer ein Bruder vor dem Altar zum HERRN und für die Fürbitte des Schutzpatrons des Ordens und der Kirche im Gebet zubringen. Den würdevollen und schweren Mienen des Abtes und des Priors zum Trotz machte der Witz die Runde, wie denn der Heilige bei der Suche helfen konnte, wo doch er selbst verloren gegangen war.



Doch eigentlich war man sich sicher, dass das Heiltum ganz und gar nicht verloren gegangen, sondern gestohlen worden war! Hatte nun der Teufel selbst die Hand im Spiel gehabt oder war es ein menschlicher Dieb allein gewesen, das Feuer war gewiss gelegt worden, um sich Zugang zur Sakristei zu verschaffen. Da der Gedenktag des Heiligen heranrückte und der Vater weiterhin nicht zugeben wollte, was geschehen war, fragte man sich langsam auch, wie der Verlust noch vertuscht werden konnte, wenn erst die Prozession durch das Dorf und über die Höfe das Reliquiar zur Schau stellen sollte.



Der Tag der Wahrheit rückte heran und jede Stunde, jeden Tag wurde gebetet und verehrt, in zunehmender Verzweiflung. Der Abt schien immer dünner zu werden und kaum je sah man ihn ohne Paternosterschnur. Am 12. Juni schließlich, als die Spannung kurz vor Sonnenuntergang ihren Höhepunkt erreichte, hörte man in der Kapelle abermals die Stimme des Abts – statt in Flüchen erhoben in Lobpreisen und Dank.



Wieder wurde nichts gesagt, wieder wurde viel gemunkelt. Es sollte ein Geheimnis bleiben, wie am nächsten Tag bei der Prozession die goldene Hand vorangetragen werden konnte, in der zwar kein Bergkristall, doch ohne Zweifel ein kleiner Finger zu sehen war. War ein Wunder geschehen? War dem Abt der Fingerknochen bei der halsbrecherischen Flucht einfach in den Schuh gefallen? Fehlte in der Krypta in einem der Sarkophage vielleicht ein Knöchelchen?



Niemand dachte je daran, dass am Unglückstag, während alle Welt dabei war, den Brand zu löschen, ein Pilger ein Antoniusschwein durch das Tor getrieben hatte, und niemand hatte bemerkt, wie es auf dem Platz zwischen der Sakristei und dem Haupthaus kurz stehen geblieben war, mit der Schnauze am Boden, und schmatzend und knackend etwas zerkaut hatte, das – nur vielleicht – die Größe eines Fingerknochens gehabt hatte.



Disclaimer: Diese Kurzgeschichte ist entstanden im Rahmen eines Schreibworkshops des Arbeitskreises Critical Medievalism der Universität Freiburg. Ziel des Schreibworkshop war es, innerhalb von etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte zu verfassen.