Von Drachen: ›Introducing the Medieval Dragon‹ von Thomas Honegger

Drachen erfreuen sich heute dank breit rezipierten Romanen, Serien und Videospielen gesellschaftlich einer großen Beliebtheit und üben eine ungebrochene Faszination aus, weswegen sich auch mediävistische Universitätsseminare und Publikationen dem Themenfeld „phantastischer Tierwesen“ mit Interesse widmen. Eine Schlüsselstellung zwischen populärkulturellen Vorstellungshorizonten und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nehmen naturgemäß Einführungsbände ein. Für die englische Mediävistik hat einen solchen Thomas Honegger unter dem Titel ›Introducing the Medieval Dragon‹ in der Reihe ›The University of Wales Press Series on Medieval Animals‹ 2019 vorgelegt.



Eine überblickartige Auseinandersetzung mit den Drachen des Mittelalters stellt eine methodische wie inhaltlich komplexe Herausforderung dar. Die „Lebensspanne“ mittelalterlicher Drachen reicht von der Antike, in der wichtige Traditionslinien grundgelegt wurden, über vielfältige literarische Stränge durch das Mittelalter, die mal mehr, mal weniger eng miteinander verwoben sind (von der Bibelexegese, über Heiligenviten, höfische Romane bis hin zur Wissensliteratur, um nur die wichtigsten zu nennen), und von dort bis in die Gegenwart mit ihrer mittlerweile kaum mehr überschaubaren populärkulturellen Rezeption. Vor der Herausforderung, diese Komplexität übersichtlich und aufeinander bezogen darzustellen, steht auch Honeggers ›Introducing the Medieval Dragon‹.



Mittelalter_Digital_Sachbuch_Introducing_the_Medieval_Dragon_Thomas_Honegger_2019.webp



Der Autor arrangiert das umfängliche Material dabei nach einer allgemeinen Einführung, die den Fokus auf die englischsprachige Literatur des Mittelalters darlegt, mit einer etymologischen Herleitung des Namens die wichtigsten mittelalterlichen Drachentypen vorstellt und ihren Beginn beim Drachentöter Beowulf nimmt, der auch J.R.R. Tolkien inspirierte, in vier übergeordnete Themenbereiche – „The Dragon in Medieval Scholarship“, „The Dragon in Medieval Religion“, „The Medieval Dragon and Folklore“ und „The Dragon and Medieval Literature“.



Damit bespricht Thomas Honegger die großen Bereiche, in denen der Drache im Mittelalter eine Rolle spielt (ein weiterer Schwerpunkt wäre seine Verankerung im Alltag, wie sie uns bis heute in Architektur, Heraldik und Gebrauchsgegenständen begegnet), muss diese thematische Trennung aber regelmäßig selbst sprengen, da sich der mittelalterliche Drache nicht isoliert in ein Feld einpferchen lässt. Die religiöse Konnotation etwa, die der Drache als eine „Grundfärbung“ an sich trägt, verliert er z. B. in vielen Fällen nicht in der mittelalterlichen Wissensliteratur oder im höfischen Roman – auch wenn es im Einzelfall interpretierungswürdig ist, welche „Metavorstellungen“, die mit einem Drachen verbunden sind, implizit in ein anderes Genre oder einen Einzeltext Eingang gefunden haben.



Diese Vermischung von Themenfeldern, die Thomas Honegger aufgrund der „Natur“ des Drachen trotz seiner Einteilung in feststehende Kapitel vornehmen muss, ist damit keineswegs dem Autor anzulasten, sondern notwendige Voraussetzung, um die Einzeldarstellung eines Drachen möglichst umfassend verstehen zu können (wir haben in unserer Einführung ein anderes Arrangement vorgenommen, welches aber auf andere Schwierigkeiten in der Darstellung stößt).



Mittelalter_Digital_Rezension_Introducing_the_Medieval_Dragon_Vitorre_Carpaccio.webp

Hl. Georg im Kampf gegen den Drachen von Vittore Carpaccio, 1502-1507.



Jede Einführung, insbesondere auf knappen 100 Seiten reinen Textes, muss zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad oberflächlich bleiben. Nichtsdestoweniger gelingt es dem Autor die wichtigsten Aspekte mittelalterlicher Drachen vorzustellen – ihre seit der Antike belegte Nähe zu den Schlangen, die entsprechenden Einfluss auf religiöse und wissenschaftliche Schriften des Mittelalters hatte, deren wichtigste Vertreter genannt werden, die enge Verbindung des Drachen mit dem Bösen bzw. mit dem Teufel, immer wieder auch Verweise auf moderne Darstellungen von Drachen. Dabei hilft unter anderem die „anglistische“ Fokussierung auf den Gegenstand (Germanisten würden dieselben Aspekte, die Thomas Honegger vorstellt, an anderen literarischen Beispielen aufzeigen können).



Mittelalter_Digital_Rezension_Introducing_the_Medieval_Dragon_Vitorre_Carpaccio_Anke_Eissmann.webp

Umzeichnung des Drachenkampfes von Anke Eißmann.



Damit stellt ›Introducing the Medieval Dragon‹ eine gelungene Einführung in das Thema dar, in erster Instanz für (angehende) Anglisten und Anglistinnen, in zweiter für interdisziplinär interessierte Mediävisten und Mediävistinnen, die hier auch die wichtigste weiterführende Literatur finden. Hervorzuheben sind darüber hinaus die Umzeichnungen bekannter mittelalterlicher Drachendarstellungen von Anke Eißmann, welche die Heterogenität dieser Darstellungen im Rahmen der Einführung ansprechend vereinheitlicht.



Alle weiteren Informationen zum Buch ›Introducing the Medieval Dragon‹ findet ihr hier. Zum Blog von Anke Eißmann geht’s hier entlang.