Farbenpracht auf Pergament: Im Interview mit Dr. Julia Bangert
Mittelalterliche Prachthandschriften und Inkunabeln (Wiegendrucke) begeistern bis heute und sind fester Bestandteil „unserer“ Vorstellung vom „Mittelalter“: Auch wenn uns die Inhalte fern und fremd sein mögen (oder wir sie gar nicht verstehen), so entführen Bild- und Motivreichtum in ihrer minutiösen Ausgestaltung in fremde Welten und faszinieren durch ihre Alterität genauso wie durch den enormen Aufwand, den Menschen früherer Zeiten in die Erstellung solcher Artefakte investierten. Wir sprechen mit Dr. Julia Bangert, die Seiten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Prachtcodices nacharbeitet – und auch noch „nebenbei“ Geschäftsführerin der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft in Mainz ist und den Freundeskreis Gutenberg der Gutenberg Stiftung betreut.
Schon von klein auf hat sich Julia Bangert mit der Malerei beschäftigt. Trotzdem studierte sie zunächst Buchwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Magister 2012, Promotion 2017). Stets war sie nebenher als Autodidakt künstlerisch tätig, und parallel zur Arbeit an ihrer Dissertation zum Thema ›Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit‹ begann sie dann, für den Gutenberg-Shop in Mainz Reproduktionen von Einzelseiten aus der Gutenberg-Bibel zu illuminieren. Seit Oktober 2017 arbeitet sie nun sowohl als Geschäftsführerin der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e. V. als auch als freie Künstlerin.
Mittelalter Digital: Liebe Julia, schön, dass du dir Zeit für uns nimmst! Du hast Buchwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte studiert, wurdest 2017 zum Thema Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit promoviert. Du bist nun seit einigen Jahren Geschäftsführerin der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e. V. und gleichzeitig freischaffende Künstlerin – und irgendwo dazwischen illuminierst du Reproduktionen von Einzelseiten der Gutenberg-Bibel.
Wie ist es nach deiner recht theorielastigen Ausbildung dazu gekommen, dass du nun mit Pinsel, Stift und wahrscheinlich viel Geduld „mittelalterlichen“ Seiten Farbe und Leben einhauchst?
Das Anfangsblatt der Genesis / des Johannes-Evangeliums / des Buchs der Sprichwörter. Als Vorlage diente die Gutenberg-Bibel der Staatsbibliothek zu Berlin. Format ca. 44 x 32 cm.
Julia Bangert: Seit meiner Kindheit habe ich zwar schon immer gemalt und mich mit Kunst beschäftigt, aber das war mehr oder weniger Zufall. Durch mein Studium kam ich in Kontakt mit der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e.V. und nachdem ich dort ein Praktikum gemacht hatte, blieb ich ehrenamtlich aktiv dabei. Zum Ende meines Studiums wurde mir dann zum ersten Mal angeboten, die Geschäftsführung zu übernehmen. Da ich jedoch geplant hatte, zu promovieren und dafür bereits ein Stipendium für meine Quellenrecherche in Wolfenbüttel an der Herzog August Bibliothek bekommen hatte, bin ich nur übergangsweise für drei Monate eingesprungen. In dieser Zeit lag auch die Frankfurter Buchmesse, auf der die Gutenberg-Gesellschaft immer am Gemeinschaftsstand des Gutenberg-Museums Mainz und der Gutenberg Stiftung mit dabei ist.
Vor Ort habe ich mir ein paar Tage lang angesehen und angehört, wie die Geschäftsführerin der Gutenberg Stiftung, Zvjezdana Cordier, Interessierten die verschiedenen Reproduktionen von Einzelseiten aus der Gutenberg-Bibel vorgestellt hat. Am letzten Tag habe ich sie schließlich angesprochen, nach den Künstlern gefragt und einfach mal behauptet, dass ich das meiner Meinung nach auch könnte. Sie war zwar anfangs skeptisch, aber nach ein paar Probearbeiten hatte ich sie überzeugt. Ich kam damit auch genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die Künstlerin, die die aufwendigen Prachtseiten bis dahin gestaltet hatte, Gisela Maschmann, war gerade dabei aufzuhören. Bei ihr habe ich noch das Vergolden gelernt und seitdem arbeite ich nebenher als „Illuminatorin“ für den Gutenberg-Shop.
Als Vorlage diente die Gutenberg-Bibel der Staatsbibliothek zu Berlin. Format ca. 44 x 32 cm.
Mittelalter Digital: Nun ist die Gutenberg-Bibel zwar weltbekannt, aber aufs Ganze gesehen ist es dann doch ziemlich speziell, sich damit künstlerisch auszuleben, zumal du dich ja auch „normalerer“ Kunst widmest. Hat dir dein Studium der Buchwissenschaft dabei geholfen?
Julia Bangert: In der Tat war es hilfreich für mich, bereits einige theoretische Hintergründe der Gutenberg-Bibel und ihrer Entstehung im Studium kennengelernt zu haben. In den Jahren vor der Coronapandemie habe ich öfter mal live auf der Buchmesse gemalt und dabei stellen die Besucher immer viele Fragen zum Herstellungsprozess der Gutenberg-Bibel allgemein und damit zusammenhängend zur Erfindung des Buchdrucks und zu Johannes Gutenberg. Da ich in meinem Studium einen historischen Schwerpunkt gewählt hatte – die Zeit Gutenbergs war u. a. Teil meines Dissertationsthemas –, kann ich diese Fragen meist auch beantworten.
Mittelalter Digital: Kannst du uns ein paar Einblicke in den künstlerischen Arbeitsprozess geben? Auf welcher Grundlage basieren deine Illuminationen? Arbeitest du mit „authentischen“ Reproduktionen der Seiten, die du farblich ausgestaltest? Verwendest du bestimmte zeitgenössische Werkzeuge oder modernes Equipment?
Julia Bangert: Es gibt im Gutenberg-Shop verschiedene Stufen der Bibelseiten, die unterschiedlich aufwendig sind. Für kleines Geld haben wir Blätter, bei denen die Rubrikation, die Initialen und Randleisten in reduzierter Form bereits vorgedruckt sind und nur noch per Hand ausgemalt wird. Bei der nächsten Stufe ist das Papier besser und statt Goldfarbe wird echtes Blattgold verwendet. Richtig authentisch wird es dann erst bei der wertvollsten und aufwendigsten Variante, den Prachtseiten.
Diese sind die eigentlichen Reproduktionen und dafür bekomme ich ein handgeschöpftes Baumwollpapier, auf dem im Buchdruck nur der schwarze Text vorgedruckt ist – also ganz wie beim Original. Für die Blattvergoldung arbeite ich zeitgenössisch mit einem nach mittelalterlichen Rezepten selbst angemischten Goldgrund. Für die Malerei allerdings verwende ich in der Regel gekaufte Gouachefarben, mische mir also nicht selbst die Farbpigmente an. Das hat vor allem praktische Gründe. Auch die Pinsel sind gekauft. An den Stellen, die das Ergebnis nicht beeinflussen, arbeite ich also nicht zu 100 Prozent authentisch. Das Papier, der Druck und die Illumination sind insgesamt aber tatsächlich so nahe am Original dran, wie möglich, und ich liebäugle durchaus damit, bei Gelegenheit auch die Farben einmal selbst herzustellen.
Auch die roten Anfangszeilen eines Kapitels und die roten Aufstriche an den Satzanfängen, die sogenannte Rubrikation, werden wie im Original per Hand ergänzt.
Mittelalter Digital: Da es ja heute noch Gutenberg-Bibeln gibt, weiß man sehr konkret, wie einzelnen Exemplare bis ins Detail aussehen. Orientierst du dich bei deiner Arbeit an einer spezifischen Vorlage oder nimmst du dir auch künstlerische Freiheiten heraus, indem du vielleicht mal andere Farben verwendest? Gibt es Schwierigkeiten bei einer „authentischen“ Reproduktion? Die Herausforderungen beginnen bestimmt schon bei der richtigen Farbwahl und enden mit dem letzten Pinselstrich…
Julia Bangert: Bislang orientiere ich mich für die Reproduktionen in erster Linie am Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin. Es ist ein fast vollständig erhaltenes Pergamentexemplar der Gutenberg-Bibel und gilt aufgrund seiner reichhaltigen Illumination und seines guten Erhaltungszustands als das schönste.
Als Vorlage diente die Gutenberg-Bibel der Staatsbibliothek zu Berlin. Format ca. 44 x 32 cm.
Die Anfangsseite des Buches Genesis mit der langen blauen Leiste am linken Rand ist sicher auch eine der bekanntesten Darstellungen aus der Gutenberg-Bibel. Diese habe ich übrigens inzwischen schon drei Mal gemalt und das immer so nah an der Vorlage wie möglich. Lediglich bei Kleinigkeiten kann es vorkommen, dass ich sie anpasse: die blaue Randleiste z. B. steht im Original sehr eng am Text, da nehme ich mir gerne die Freiheit heraus, ein klein wenig mehr Luft zu lassen. Ansonsten geht es bei den Prachtseiten natürlich um eine möglichst originalgetreue Illumination. Das ist ein ganz anderes Arbeiten als bei meinen freien Bildern und auch nicht ganz einfach, denn das Berliner Exemplar habe ich leider noch nicht im Original gesehen. Stattdessen arbeite ich mit einem Faksimile.
Beim Arbeitsablauf orientiere ich mich am zeitgenössischen Vorbild und gehe in folgenden Schritten vor: nach der Vorzeichnung fange ich an mit der Rubrikation, dann kommt die Vergoldung und zum Schluss erst die Malerei.
Neben der Berliner Gutenberg-Bibel verwende ich in seltenen Fällen auch die Göttinger Gutenberg-Bibel (in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) als Vorlage und diese konnte ich im Rahmen einer Ausstellung 2018 einmal genauer in Augenschein nehmen. Dabei habe ich festgestellt, dass die Farben völlig anders wirken als im Digitalisat. Insbesondere für die Farben, aber auch für sehr kleine Details ist es also durchaus schwierig, genau zu kopieren, ohne das Original vorliegen zu haben.
Das Anfangsblatt der Genesis. Als Vorlage diente die Gutenberg-Bibel der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Format ca. 44 x 32 cm.
Mittelalter Digital: Wer sich einen „echten“ Gutenberg (jedenfalls als Einzelseite) ins eigene Haus holen möchte, kann dies über den Gutenberg-Shop tun. Hast du einmal darüber nachgedacht, wie viel Aufwand und Arbeit in einem der Prachtblätter stecken? Und weiß man darüber Bescheid, unter welchen Umständen damals produziert wurde?
Julia Bangert: Wie lange ich für die Illumination einer Seite brauche, ist tatsächlich eine der häufigsten Fragen, die mir gestellt werden. Das unterscheidet sich natürlich je nach Motiv, aber in jeder Seite stecken sehr viel Arbeit und viele Stunden. Wenn man das weiß, sind die Preise für diese Blätter auch mehr als gerechtfertigt, denn schon in der Herstellung des Papiers und im Druck des Textes steckt jeweils Handarbeit.
Auch zur Zeit Gutenbergs war das nicht anders. Man geht davon aus, dass Satz und Druck der 180 Exemplare der Gutenberg-Bibel, die schätzungsweise produziert wurden, etwa drei Jahre gedauert haben. Die weitere Ausgestaltung wie Bindung und Illumination war dann abhängig vom Geldbeutel und dem Geschmack des Käufers. Die vollständige Ausgestaltung der zwei Bände einer Gutenberg-Bibel dürfte aber mindestens noch einmal ein Jahr in Anspruch genommen haben. Das könnte sich heute kaum noch jemand leisten.
Auf dem Blatt der Genesis gefallen mir vor allem die vielen Tiere, die kleine Highlights setzen, wie hier die beiden Vögel und das Bienchen.
Mittelalter Digital: Der künstlerische Part ist das eine. Darüber hinaus bist du ja auch Geschäftsführerin der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e. V. Ich nehme an, dass sich die beiden Aufgabenfelder gegenseitig bedingen und befruchten. Was hat man als Geschäftsführerin für Aufgaben und wie teilt sich die Arbeit zwischen Management auf der einen Seite und Kunst auf der anderen Seite auf?
Julia Bangert: Meine Aufgaben als Geschäftsführerin der Gutenberg-Gesellschaft sind sehr vielfältig. Ich muss mich um die Verwaltungsarbeiten kümmern und die Buchhaltung, aber auch um die Organisation unserer verschiedenen Veranstaltungen und Exkursionen sowie die Presse- und Social Media-Arbeit. Zusätzlich haben wir auch immer verschiedene Projekte am Laufen, die ich betreue, und nicht zu vergessen natürlich die übliche Vereinsarbeit wie der Kontakt zu den Mitgliedern, das Organisieren und Vorbereiten der Vorstands- und Präsidiumssitzungen oder der Mitgliederversammlung.
Da wir zudem Publikationen herausgeben, wie z. B. das Gutenberg-Jahrbuch, kommen dann noch weitere Aufgaben wie Anzeigenakquise, das Abstimmen der Abläufe sowie der Buchverkauf und -versand hinzu. All das wäre alleine gar nicht machbar, weshalb ich immer zwei engagierte Praktikanten und Praktikantinnen als Hilfe dabei habe. Das Ganze ist trotz der Menge an Arbeit nur ein Halbtagsjob, weshalb ich versuche, meine Woche zwischen Gutenberg-Gesellschaft und Kunst einigermaßen gleichwertig aufzuteilen. Das funktioniert nicht immer, denn die Arbeit ist oft mit ehrenamtlichem Zusatzengagement verbunden, aber ich denke auf jeden Fall, dass sich beide Tätigkeiten gegenseitig befruchten und es ist wechselseitig ein schöner Ausgleich.
Besonderheiten, die nur auf bestimmten Seiten vorkommen, male ich besonders gerne, wie diesen Drachen auf der Seite zum Prolog des Hieronymus zum Buch der Sprichwörter, dem sogenannten „Salomon-Spiegel“ und dem kunstvollsten Blatt der Berliner Gutenberg-Bibel.
Der durchaus mal etwas hektische Arbeitsalltag lockert die Anspannung, die man für das ruhige und präzise Malen braucht, während ich im Umkehrschluss durch das Malen jederzeit Ruhe auch in stressigen Phasen finde. Insgesamt kommen mir die Vielseitigkeit, die Abwechslung und die Selbstbestimmung in meinen beiden Jobs jedenfalls sehr entgegen.
Mittelalter Digital: Hast du auch schon andere Handschriften „ausgemalt“? Das Mittelalter bietet ja eine Vielzahl wunderschöner Prachthandschriften, anhand derer sich man künstlerisch ausleben könnte. Gibt es vielleicht einen persönlichen Favoriten, an dem du dich gerne versuchen würdest?
Julia Bangert: Abwechslung und neue Herausforderungen weiß ich sehr zu schätzen, daher versuche ich immer mal wieder etwas Neues zu machen. Letztes Jahr habe ich beispielsweise für die Draiflessen Collection in Metttingen eine mittelalterliche Handschriftenseite kopiert. Die Vergoldung wurde dabei gefilmt und die Seite in einer Ausstellung als Teil einer Dokumentation präsentiert, wie eine Handschrift entsteht.
Erst vor Kurzem habe ich in zwei alten Drucken aus dem 16. Jahrhundert für einen Sammler die enthaltenen Holzschnitte koloriert und für den Gutenberg-Shop habe ich außerdem eine Reihe von Miniaturinitialen für Schmuckmedaillons nach dem Vorbild eines französischen Alphabets aus dem 16. Jahrhundert gemalt. Ansonsten lassen mir die Aufträge für die Bibelseiten oft leider wenig Zeit für anderes und in meiner Freizeit widme ich mich zur Abwechslung vom reinen Kopieren meist eher meinen freien künstlerischen Arbeiten.
Nichtsdestotrotz würde ich mich sehr gerne weiter an anderen Handschriften versuchen. Vor allem im Bereich der Stundenbücher gibt es so viele großartige Prachthandschriften, wie beispielsweise das Stundenbuch der Maria von Burgund oder das „Très Riches Heures“ des Herzogs von Berry, dass ich mich bei der Auswahl allerdings nur schwer entscheiden könnte.
Handschrift auf Pergament. Als Vorbild diente die „Cronica Eusebii Salomonis“ (Parker Library des Corpus Christi College in Cambridge).
Mittelalter Digital: Liebe Julia, ganz vielen Dank für die spannenden Auskünfte. Wer sich weiter über die Arbeit von Julia Bangert informieren möchte, kann dies auf ihrer Webseite und auf ihrem Instagram-Account tun.
Das Interview führte Tobias Enseleit.