Klosterkultur hautnah erleben: ›Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau‹
Ab heute widmet sich die Große Landesausstellung ›Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau‹ einem der bedeutendsten Zentren des Mittelalters: Die überragende Stellung der Reichenau in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik wird ab dem 20. April im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz sowie auf der Insel wieder lebendig.
Nach über 1.000 Jahren kehren fünf von der UNESCO ausgezeichnete Handschriften aus Paris, Cividale del Friuli, Trier, Aachen und Darmstadt wieder an den Bodensee und damit an den Ort ihrer Entstehung zurück. Kostbare Exponate der Goldschmiedekunst, Glasmalereien, Elfenbeinarbeiten, Skulpturen, Gemälde und eine Fülle an Handschriften und Urkunden ergänzen die Ausstellung des Badischen Landesmuseums in Konstanz.
Die Besucherinnen und Besucher erwartet eine der beeindruckendsten Sonderausstellungen des Jahres – mit seltenen Einblicken in das geistige und kulturelle Leben des Mittelalters. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg.
Die Blütezeit der Insel Reichenau markiert eines der wichtigsten Kapitel der europäischen Geschichte: So abgeschieden das Kloster auch erscheint, im Früh- und Hochmittelalter war der Konvent politisch und kulturell weitreichend vernetzt und pflegte Beziehungen von Irland bis Jerusalem und von Skandinavien bis Nordafrika.
Eine der wichtigsten Quellen für die Strahlkraft des Klosters ist das sogenannte ›Reichenauer Verbrüderungsbuch‹: Angetrieben von der Sorge um das ewige Heil ihrer Seelen, knüpften die Klosterkonvente durch die Eintragung in Verbrüderungs- oder Gedenkbücher spirituelle Bündnisse mit anderen klösterlichen Gemeinschaften. Unter den wenigen in Europa erhaltenen Exemplaren ist das Reichenauer Verbrüderungsbuch das umfangreichste: Es umfasst 38.000 Namen.
Damit ist das Reichenauer Exemplar die umfangreichste überlieferte Handschrift dieser Art. Die Namen lesen sich wie das Who is Who des Mittelalters! Angefangen bei Karl Martell, folgen Herrscher wie König Æthelstan von England (um 1000), eingetragen vom Bischof von Worcester, oder Odo von Châtillon, der als späterer Papst Urban II. zum Ersten Kreuzzug aufrief. Über sieben Jahrhunderte wurde das Verbrüderungsbuch bis ins 16. Jahrhundert hinein geführt. Insgesamt sind über 100 Klöster und geistliche Gemeinschaften in dem Buch nachzuweisen.
Das Verbrüderungsbuch ist ein Beleg dafür, welch große Anziehungskraft das Kloster während der Blütezeit der Reichenau besaß. Zahlreiche geistliche und weltliche Persönlichkeiten haben die Insel besucht und residierten in einer für Durchreisende eigens errichteten Pfalz. Im Kloster selbst, im Reichenauer Skriptorium, entstanden im Auftrag bedeutender Herrscher einige der künstlerisch bedeutendsten Handschriften der Welt. Ihre Schönheit und Qualität belegen die meisterhaften Fähigkeiten der Mönche und spiegeln die hohe gesellschaftliche Position ihrer Stifter und Empfänger wider. Vorrangig für liturgische Zwecke gedacht, dienten diese opulenten Codizes auch als repräsentative Symbole der Macht.
Wer sich gerne Podcasts anhört, findet in ›Mönchsgeflüster‹ den idealen Begleiter zur Landesausstellung mit spannenden Themen und hochkarätigen Gästen, die Einzelaspekte der Klosterkultur diskutieren. Ihr findet alle Folgen auf der Webseite der Ausstellung und in unserem Podcast-Bereich .
Während der gesamten Laufzeit werden insgesamt rund 80 Handschriften ausgestellt, darunter 16 Prachthandschriften sowie fünf aus dem UNESCO-Weltdokumentenerbe. Damit bietet die Große Landesausstellung die größte jemals realisierte Zusammenkunft von Reichenauer Handschriften. Absoluter Höhepunkt der Ausstellung sind zehn Vitrinen im zweiten Obergeschoss: Hier finden sich die wichtigsten Werke der Reichenauer Schreibwerkstatt.
Das Liuthar-Evangeliar aus der Domschatzkammer Aachen beispielsweise kann über die gesamte Laufzeit gezeigt werden und enthält eine der bekanntesten Miniaturen der mittelalterlichen Buchkunst: ein Widmungsbild, auf dem der Mönch Liuthar dem Kaiser, wohl Otto III., den vorliegenden Codex überreicht.
Widmungsbild links: Der Mönch Liuthar übergibt den Kodex Kaiser Otto III., Liuthar-Evangeliar, Kloster Reichenau, um 969/1000, Aachen, Domschatzkammer, Inv. G 25, fol. 15v, © Domschatzkammer Aachen, Foto: Eric Werner
„Handschriften sind nahezu das Aufwändigste und Fragilste, was ein Museum ausstellen kann. Die Präsentation erfordert besondere klimatische Bedingungen, spezielle Vitrinen und eine sorgsame Lichtführung. Wir sind sehr glücklich, dass wir die kostbaren Handschriften jeweils mindestens drei Monate zeigen können, verteilt auf beide Hälften der Laufzeit.
Den Besucherinnen und Besuchern bietet sich die einmalige Gelegenheit, die Entwicklung der Buchmalerei vom 9. bis 11. Jahrhundert auf der Reichenau nachzuvollziehen und die Handschriften und Stile miteinander zu vergleichen“, so Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseums. „Während der gesamten Laufzeit reichen sich die Spitzenwerke die Hand. Das zum UNESCO-Weltdokumentenerbe zählende Poussay-Evangelistar aus Paris reist direkt zu Beginn an. Es wird bei uns erstmalig seit der Restaurierung seines Prachteinbandes gezeigt.
Evangelistar von Poussay, Paris, Bibliothèque nationale de France, Manuscrits, Lat. 10514, Buchdeckel vorn, © Bibliothèque nationale de France
In der zweiten Ausstellungshälfte können sich die Besucherinnen und Besucher auf den Egbert-Psalter aus Cividale del Friuli freuen. Die Ausreise des Psalters musste durch das italienische Kulturministerium genehmigt werden. Das bedeutende Werk zählt zum nationalen Kulturerbe Italiens und verlässt das Land sonst nie – eine besondere Ehre.“ Die engen Verbindungen der Reichenau zu Italien dokumentieren in der Ausstellung auch zwei bedeutende Steinwerke: Die 1973 ausgegrabene Reliefplatte aus der Kirche St. Peter und Paul in Niederzell wird im direkten Vergleich zu einer nahezu identischen Platte aus dem Archäologischen Nationalmuseum in Venedig gezeigt – und untermauert damit den neuesten Forschungsstand: Um das Jahr 800 muss der Bischof von Verona und Stifter Egino Werkleute aus Venetien für seinen Kirchenbau auf die Reichenau mitgebracht haben.
Zahlreiche weitere nationale wie internationale Leihgeber unterstützen die Jubiläumsschau mit ihren wichtigsten Stücken: Aus Köln erwartet das Museum mit dem sog. Harrach-Diyptychon eines der schönsten Elfenbeinreliefs aus der Hofschule Karls des Großen. Von einer gelebten Heiligenverehrung zeugen Leihgaben wie das Verena-Armreliquiar aus Bad Zurzach. Der mit Edelsteinen besetzte Kirchenschatz birgt ein kleines Türchen, das geöffnet den Blick auf den Armknochen der Heiligen freigibt. Herausragende Schätze wie der Egbert-Schrein aus Trier, das sog. Hatto-Fenster aus Mainz oder der Wetterhahn aus Brescia, einer der ältesten überhaupt, führen die Besucherinnen und Besucher in die mittelalterliche Klosterwelt ein.
Armreliquiar der heiligen Verena von Zurzach, 14. Jahrhundert, Münsterschatz Bad Zurzach, © St. Verena Stiftung, Foto: Alfred Hidber
Damit bietet die Schau eine konkrete Vorstellung von den Anfängen und der Blütezeit des frühen Christentums. „Klöster waren zentrale Orte. Sie waren Herrschafts- und Verwaltungssitze, ordnende Institutionen, religiöse Zentren und kulturelle Leuchttürme, die ins ganze Land und weit darüber hinausstrahlten.
Wer sich mit der Geschichte des Klosters Reichenau beschäftigt, lernt die Strukturen des Frühmittelalters kennen. Nach der Antike entstanden hier die Wurzeln Europas neu“, fasst Olaf Siart, Wissenschaftlicher Projektleiter, eine Hauptaussage der Ausstellung zusammen.
Die Große Landesausstellung liefert Antworten auf die grundlegenden Fragen zur Klosterkultur. Interessierte erfahren, warum und wie Klöster auf Inseln gegründet wurden und begegnen den verschiedensten Persönlichkeiten. Die Heiligenverehrung und wichtigsten Patrone der Insel wie Maria, die Heiligen Petrus, Markus und Georg werden ebenso vorgestellt wie das alltägliche Leben der Mönche – von der klösterlichen Liturgie bis hin zum Alltagsleben. Auch die Benediktsregel, nach der im Konvent schon ab dem 9. Jahrhundert gelebt wurde und die für eine strukturierte und fromme Lebensweise sorgte, wird anhand des bedeutendsten erhaltenen Exemplars nördlich der Alpen belegt.
Regula S. Benedicti, Cod. Sang. 914, Beginn des Briefes von Grimald und Tatto an den Reichenauer Bibliothekar, in dem sie darüber berichten, wie sie Benediktsregel in Aachen kopiert haben, St. Gallen, erstes Drittel des 9. Jahrhunderts, St. Gallen, Stiftsbibliothek, © St. Gallen, Stiftsbibliothek
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der herausragenden Bibliothek, die – lange vor der Erfindung des Buchdrucks – als eine der größten europäischen Wissensspeicher und Impulsgeber galt. Die Große Landesausstellung „Welterbe des Mittelalters“ ist ein Gesamterlebnis: „Die besondere Anziehungskraft ergibt sich aus dem doppelten UNESCO-Welterbe-Status. Parallel zu den kostbaren Handschriften, die wir in Konstanz ausstellen, können die Besucherinnen und Besucher die Originalschauplätze auf der Insel in Augenschein nehmen.
In nur neun Kilometern Entfernung liegt das einzigartige Ensemble der drei mittelalterlichen Kirchen St. Georg, St. Maria und Markus und St. Peter und Paul, die zum Welterbe der Menschheit zählen. Diese räumliche Nähe zu den noch immer fortlebenden spirituellen Traditionen auf der Klosterinsel verleiht der Ausstellung eine außergewöhnliche Authentizität und Direktheit“, so Eckart Köhne. Nicht nur die Inselgemeinde der Reichenau, auch die Mönche der Cella St. Benedikt haben das Ausstellungsprojekt unterstützt und begehen das 1300-jährige Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen.
Für die enge Verknüpfung der Ausstellung in Konstanz mit den Orten auf der Reichenau sorgt auch eine speziell entwickelte kostenfreie App: Der „Reichenau“-Guide führt mit Audiospuren und Expertenvideos durch die Ausstellung und bietet auch Informationen zu den Kirchen, den neu gestalteten Klostergärten sowie der Münsterschatzkammer auf der Insel. Geboten wird zudem ein Hörspiel der Bestseller-Autorin Tanja Kinkel: Ihre fiktiven Dialoge lüften intime Geheimnisse der Klostergeschichte. So kann man mit Walahfrid Strabo oder Hermann dem Lahmen im Ohr über die Insel spazieren. Und wer die Push-Nachrichten aktiviert, erhält regelmäßig von Mönch Grimalt Updates zum klösterlichen Tagesablauf…
3D-Rekonstruktion Münster Reichenau, Blick in den Ostchor karolingischer Zeit, © Faber Courtial
Im Kloster Reichenau wurde Wissen bewahrt, gelehrt und von hier aus in die damals bekannte Welt getragen. Das Kloster Reichenau mit seinem Skriptorium kann durchaus als Wiege des Wissenschaftsstandorts Baden-Württemberg bezeichnet werden. Anlässlich des Jubiläums und der Großen Landesausstellung führt das Land Baden-Württemberg die Tradition des Wissenstransfers weiter: Von den Partnern, die das Ausstellungsprojekt mit ihrer Expertise unterstützt haben, sind insbesondere das Landesarchiv Baden-Württemberg mit dem Generallandesarchiv in Karlsruhe, die Badische Landesbibliothek Karlsruhe sowie das Archäologische Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz zu nennen.
Zudem kooperierte das Badische Landesmuseum mit zahlreichen Universitäten des Landes wie Heidelberg, Freiburg und Tübingen. Ein großer interdisziplinärer Beirat stand dem Ausstellungsteam mit seiner fachlichen Expertise beratend zu Seite. Somit konnten neueste Forschungsergebnisse in das Ausstellungskonzept und die begleitenden Publikationen einfließen. Der aufwendig illustrierte Begleitband zur Ausstellung ist ab sofort im Buchhandel, im Museumsshop sowie online erhältlich.
Darüber hinaus finden in diesem Jahr zahlreiche Aktivitäten im ganzen Land statt. Auf der Insel Reichenau präsentiert das Münster St. Maria und Markus seine Preziosen in einer neu eingerichteten Schatzkammer. Für das Museum Reichenau hat das Badische Landesmuseum ein neues Ausstellungskonzept entwickelt: Auch in den kommenden Jahren vermittelt es dem Publikum die Leistungen der Reichenauer Mönche auf ebenso innovative wie verständliche Weise. In Karlsruhe zeigt das Badische Landesmuseum in seiner Mittelalter-Abteilung unter dem Titel „Nur beten und arbeiten?“ neue Perspektiven auf das mittelalterliche Leben im Kloster und im profanen Alltag.
Die mittelalterliche Kirche St. Georg, Reichenau, © Reichenau Tourismus, Foto: Theo Keller
Auch die drei wichtigsten Kooperationspartner beschäftigen sich in eigenen Sonderausstellungen mit dem reichen kulturellen Erbe der Reichenau. Ab 26. April zeigt das Generallandesarchiv Karlsruhe in der Präsentation „Spurensuche – Eine Kriminalitätsgeschichte der Reichenau“ wertvolle Schätze aus dem Klosterarchiv. Im Zentrum der Präsentation steht das sogenannte Reichenauer Malefizbuch, das 150 Kriminalfälle aus den Jahren 1450 bis 1590 verzeichnet.
Wie Schrift, Tinte, Pergament und die Gestaltung der Reichenauer Handschriften die zeitgenössische Kunst inspirieren, verrät eine Ausstellung in der Badischen Landesbibliothek: „Alte Bücher – neue Inspirationen. Künstlerische Blicke auf die Reichenauer Handschriften“ ist ab dem 15. Mai zu sehen.
Das Archäologische Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz lädt ab dem 20. April in die Ausstellung „Archäologie & Playmobil – Mönche, Mission, Abenteuer“ ein. Die Familienausstellung ist im Eintrittsticket für die Große Landesausstellung enthalten.
Wer sich weiter über die große Landesausstellungen informieren möchte, findet alles Wissenswerte auf Webseite zur Ausstellung .