Mäuse müssen auch in die Kirche

„Mäuse müssen auch in die Kirche!“, tönte es von diesem hölzernen Ort, von dem Pfarrer Paul immer zur Gemeinde sprach. Er überlegte immer regelmäßig, welche Tiere auf Gottes Erde wohl in die Kirche gehen mussten. Das weckte die Leute auf und zog so manches Grinsen nach sich. Aber ihm war es ernst. Erst heute Morgen hatte er ein paar Mäuse zwischen den Kirchenbänken herumhuschen sehen. Schön, wie fleißig alle zu seinem Gottesdienst gingen.



Er fuhr fort von der Schöpfung, dem Sündenfall und der ewigen Verdammnis und natürlich von Jesus. „Oh Jesus“, seufzte er. Nachdem die Messe vorbei war, war Paul erschöpft. Er hatte wieder alles gegeben für seinen Gottesdienst. Doch er musste sich noch mit dem Bischof treffen. Es gab ein dringliches Anliegen wegen einer neuen Reliquie oder etwas Ähnlichem. Bischof Flambert war ganz anders als er selbst. Statt voller Energie sprach Flambert ruhig und nicht viel. Seinen Ausführungen über Gott mangelte es zudem an Einfallsreichtum. Wie sollte man den Herrn preisen, wenn nicht auf immer neuen Wegen? Manchmal fragte Paul sich, ob der Bischof Jesus so sehr liebte wie er selbst. Er nahm einen Schluck des Messweins und dankte Gott dafür, Franzose zu sein.



Paul bewunderte die glänzende rote Farbe dieses grandiosen Getränkes – das Farbenspiel zwischen Blau und Rot und das Weiß des aus ihm strahlenden Lichtes. Wahrlich, aus diesem Safte war das Blut des Herrn. Im Schein der Kerzen, die seine Stube erhellten, fragte sich Paul schließlich, wo der Bischof blieb. Die Kirchenglocken waren schon lange verschallt und er war immer noch nicht in Pauls bewundernswerter Kirche erschienen. Wie einfach es war, den Bischof davon zu überzeugen, sich hier zu treffen. Doch langsam wurde Paul ungeduldig.



Er verließ seine Stube und ging in das Hauptschiff des sakralen Gebäudes. Er wurde überwältigt von einem prächtigen Farbspiel. Licht schoss durch die bunten Kirchenfenster und überflutete den ganzen Innenraum mit allen Farben, die das Auge fassen konnte. Perplex staunte Paul und folgte mit seinen Sinnen der dargebotenen Offenbarung seines Herrn. Nur langsam drang zu ihm eine Stimme durch, die immer deutlicher und bestimmter ein Wort wiederholte: „FEUER!“. Die Stadt um Pauls kleine Kirche stand in Flammen.



„Wie kann das denn sein?“, rief Paul. Verzweifelt suchte er nach Erklärungen, warum dieser vollkommene Moment göttlicher Offenbarung sich so plötzlich in eine Höllenvision umkehrte, wieso alles, das er aufgebaut hatte, so gewalttätig bedroht und in Frage gestellt wurde. Hatte er denn nicht mehr als alle anderen gebetet, die Schafe in die Kirche geführt und den Herrn so sehr geliebt, wie es nur irgendein Mensch konnte? Er erinnerte sich daran, wie Hiob von Gott auf die Probe gestellt wurde und erkannte, dass dies genauso eine Prüfung sein musste, die ihn in den Augen der Christenheit als den frommsten Diener herausstellen sollte.



„So muss es sein“, flüsterte Paul leise zu sich, und sein Verstand wurde wieder klar. Er musste handeln. Wenn es Gottes Wille war, dass sein eigenes Haus brannte, so wollte Paul doch zumindest einige Dinge bei sich haben, die ihn bei seiner Prüfung unterstützen sollten. Er griff nach dem Messwein, legte schnell einige Hostien in den Kelch der Abendmesse und hielt das kleine Kruzifix von seinem Schreibtisch zwischen den Zähnen. So war er bereit, gerüstet auszuziehen, den Flammen und Schrecken zu trotzen, die sich ihm in den Weg stellen würden. Mit hoch erhobener Brust ging er durch das Portal nach draußen in den Kirchhof und blickte in die erhellte Nacht. Rußpartikel und verkohlter Geruch schwebten durch die Luft, auf den Straßen war ein wildes Getümmel, als alle anderen versuchten ihr Hab und Leben zu retten.



Das alles interessierte Paul nicht. Er musste Gottes Prüfung bestehen, herausfinden, was er tun sollte, welche vollkommene Tat er vollbringen musste, um sich würdig zu erweisen. Die erste Prüfung erkannte er schnell. Immer wieder kamen einzelne auf ihn zu, fragten, ob er Hilfe bräuchte, wollten den Wein und die Hostien für ihn tragen, wollten ihn in Sicherheit bringen. Nein! Verführer Luzifers, die geschickt wurden ihn von seinem Weg abzubringen. Er würde weiter durch die brennende Stadt schreiten, bis er seine Prüfung bestanden hatte.



Die nächste Prüfung war schon deutlich subtiler. Er sah Bischof Flambert, welcher ganz gegen seine Natur aufgeregt und voller Ruß im Gesicht auf ihn zu kam. „Pfarrer Paul“, packte er ihn, „sacre bleu, ein Erdbeben! Habt Ihr es gemerkt? Ein Erdbeben! Dann ist ein Feuer ausgebrochen! Es breitet sich zügig aus. Schnell, helft mir. Wir sammeln ein paar Leute zusammen und verhindern, dass es noch schlimmer wird. Los! Kommt schon!“ Doch Paul blieb ruhig. Er hatte auch diesen schelmischen Versuch des Teufels durchschaut, ihn an seinem Glauben zweifeln zu lassen. Und das noch in der Gestalt des Bischofs! Wie schändlich und nur allzu passend seine Dämonen auf den tapferen und bescheidenen Pfarrer Paul zu hetzen. Doch Paul war schlauer.



„Und die Reliquie?“, fragte er den Dämon. „Wie bitte?“ Der, der sich als Bischof Flambert ausgab, sah Paul verdutzt an. Ha, er wusste gar nicht von ihrer geplanten Unterhaltung. Paul ging stolz weiter und ignorierte gekonnt die Rufe. Immer weiter schritt Paul durch die brennende Stadt, umgebend von flammender Hitze und getrieben von seinem unerschütterlichen Glauben. Dann, in einer unscheinbaren Gasse erblickte er seine eigentliche Probe, seine heilige Tat, zu der er auserkoren ward. Im dunklen Dreck erblickte er ihn auf allen Vieren kriechend: Satan der Höllenfürst sollte seine Herausforderung sein.



Hier, am Ende aller Tage würde er – Paul – die Bestie niederringen, zum Ruhme Gottes das Böse endgültig besiegen und endlich kehrte Frieden ein in die vom Krieg gegen die verhassten Engländer gebeutelte Christenheit. Der Dunkle gab ein lautes Gegrunze von sich und rannte aufgeregt von einer Seite der Gasse zur anderen. Ruhig und gefasst näherte Paul sich ihm, den Messwein und den Kelch mit den Hostien fest in seinen Händen umschlossen. Er murmelte ein Gebet, zwischen den Zähnen immer noch das Kruzifix seines Herrn. Immer unruhiger wurde der Feind aller Menschen, sein Feind.



Paul machte sich zu seinem ersten Angriff bereit. Er holte weit aus, und im hohen Bogen flogen die Hostien durch die Luft und prasselten gegen den massiven Körper des Teufels. Unbeeindruckt schüttelte dieser die Hostien von sich und besaß dann noch die Dreistigkeit, einige davon zu verschlingen. Wie mussten diese in seinen fauligen Gedärmen brennen. Unbeeindruckt drang Paul weiter auf das haarige Monster ein. Er hatte nicht erwartet, dass der erste Streich gleich der letzte sein würde. Nun brauchte es noch das Blut des Herrn, um dem Übel aller Übel den Garaus zu machen.



Paul warf die Flasche Messwein mit aller Kraft, und sie zerschlug an der Wand eines Hauses. Der Wein spitze in alle Richtungen und ergoss sich in die Gasse. Der Teufel schrie laut auf und wurde zunehmen unruhiger. Auch Paul wurde unruhig. Würde er das Unmögliche schaffen? Keine Zweifel! Er nahm das Kreuz aus seinem Mund mit beiden Händen hoch über sich erhoben, stieß einen Schrei aus und rannte auf seinen Erzfeind zu. Dieser tat es im gleich, nur nicht so erhaben und anmutig. In einer kleinen Gasse in einer kleinen Stadt irgendwo in Frankreich stießen sie ineinander.



Paul fühlte, wie die Wucht des Zusammenstoßes ihn unkontrolliert durch die Luft beförderte. Hart schlug er auf dem matschigen Boden auf. Langsam und von Schmerz erfüllt richtete er sich auf. Lädiert im Gesicht und seine Kleidung beschmutzt blickte er sich um. Der Satan war fort. Er hatte gesiegt. Die Stadt brannte immer noch.



Disclaimer: Diese Kurzgeschichte ist entstanden im Rahmen eines Schreibworkshops des Arbeitskreises Critical Medievalism der Universität Freiburg. Ziel des Schreibworkshop war es, innerhalb von etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte zu verfassen.