Lost in Contemplation
Sie weint bitterlich, denn es tut so weh. Leid, so viel, schier unerträgliches Leid! Doch was sie jetzt fühlt, ist nichts, verglichen mit dem, was Christus erdulden musste. Erniedrigt und verspottet ertrug er den ganzen Schmerz. Sie spürt seine Blutstropfen auf ihren Wangen, als sie hoch zum Kreuz schaut. Sie tropfen aus seiner Seitenwunde, und sie fängt einen Tropfen mit der Zungenspitze auf. Er schmeckt salzig. Komisch, sie dachte immer, das Blut Christi sei süß wie Honig…
Aber ja, es ist ja ihre eigene Träne, die sie schmeckt. Vergossen im Leiden mit Christus, so wie er sein Blut für sie vergossen hat. Also doch sein Blut. Und wenn sie es sich ganz fest vorstellt, dann schmeckt der Tropfen gar nicht mehr salzig, sondern süß. Süß wie ein Rosengarten. Ein wunderschöner blühender Rosengarten, in welchem sie umherwandelt und die schönsten Blüten pflückt. Für die heilige Mutter. Sie windet ihr einen Kranz. Irgendwo in diesem paradiesischen Rosengarten hämmert ein Specht gegen einen Baum. Das Geräusch nervt. Man soll ja alle Kreaturen dieser Welt lieben, aber dieser Specht geht ihr wirklich gehörig auf die Nerven.
Sie versucht, das Geräusch auszublenden, aber es verschwindet nicht, wird immer penetranter und macht sie schier wahnsinnig. Dazu kommt jetzt noch ein unablässiges Rascheln und – sind das Schritte? Das Hämmern geht weiter. Das ist kein Specht, das ist die Holztafel! Die Tafel im Infirmarium wird geschlagen. Um sie herum wuseln ihre Mitschwestern durch die Kirche. Sie liegt in der Kreuzvenie vor ihrem Lieblingsaltar – natürlich soll man keinen Lieblingsalter haben aber naja, was soll man machen? Auf diesem steht der in einem perlenbesetzten Goldpokal gefasste Ringfinger der Heiligen Agnes, die kostbarste Reliquie ihrer Gemeinschaft. Zugegeben, der Finger ist mittlerweile etwas schrumpelig und nur noch mit viel Fantasie – ähm Glauben und inbrünstiger Andacht natürlich – zu erkennen, aber ihm verdankt die Gemeinschaft nicht nur ihre ganz besondere Nähe zur Heiligen Agnes und damit zu Christus selbst, sondern auch eine nun schon zweihundert Jahre währende wirtschaftliche Blüte.
Seit sie die Reliquie im Jahr 1273 erworben haben, pilgerten jedes Jahr hunderte von Gläubigen in den kleinen Ort am Fuß der Vogesen, an dessen Rand sich ihr Kloster befindet, um einen kleinen Teil des Heils zu erhaschen, das die Reliquie verströmt. Angefasst werden darf sie nicht mehr, seit ein übereifriger Pilger sie vor mehr als vierzig Jahren einmal umgeworfen hat. Das umkippende Gefäß hat die auf dem Altar brennenden Kerzen mitgerissen, das Altartuch hat augenblicklich Feuer gefangen, und es ist ein riesiger Tumult in der Kirche ausgebrochen. Schlimmeres konnte nur dadurch verhindert werden, dass ein aufmerksamer Laienbruder, der gute Ulrich, Gott hab ihn selig, eilte, um einen Eimer voll Wasser zu holen und so das Feuer zu löschen.
Sie war damals natürlich noch nicht dabei gewesen. Erst seit gut sieben Jahren lebt sie im Kloster, aber Mutter Margarethe hat ihr davon erzählt. Und seither darf die Reliquie nicht mehr angefasst werden. Nur noch von den Schwestern, ausnahmsweise. Manchmal streicht sie ganz sanft mit den Fingerspitzen über die Perlen und stellt sich vor, wie die Heilige Agnes sie an die Hand nimmt und sie vor den Traualtar führt, wo sie ihrem himmlischen Bräutigam übergeben wird. Und Christus spricht: „Veni sponsa! Komm, meine Braut, meine Geliebte Beatrix. Beatrix? Beatrix!“ „Ja, mein Gespons, ich komme!“ „Beatrix? Beatrix! Bob! Herrgott nochmal!“, brüllt er beinahe in ihr Ohr. Aber nein, das ist nicht Christus, es ist Schwester Alma, die Bob an der Schulter rüttelt. „Bob! Du bist schon wieder in Kontemplation versunken wie ein dummer Wanderer im Treibsand. Jetzt komm doch endlich zu dir!“
Eigentlich heißt sie Beatrix, Schwester Beatrix natürlich, aber ihre Lieblingsschwestern nennen sie manchmal Bob. Das passt einfach irgendwie besser zu ihr, und dann kann ja auch Christus eigentlich nichts dagegen haben. Mutter Margarethe, ihre heiß geliebte Novizenmeisterin, hat sie auch manchmal Bob genannt. Aber nur, wenn es niemand mitbekam. Die Ratsschwestern hätten wohl keine Freude dran gehabt… Ach, Mutter Margarethe… Seit Tagen schon liegt sie im Krankenflügel und ist zeitweise gar nicht mehr ansprechbar. Bald wird der Herr sie wohl zu sich holen. Eigentlich sollte Bob sich für sie freuen, aber sie war auch traurig. Margarethe war ihre Mutter, ihre wichtigste Vertrauensperson. Von ihr hat sie alles gelernt, über das Leben im Kloster, über Christus, über sich selbst…
„BOB!“, brüllt Schwester Alma in ihr Ohr. Es hallt von den Wänden wider, aber es ist niemand mehr in der Kirche, den es hätte stören können. „Bob, hör doch, die Tafel wird geschlagen“. Die Holztafel im Infirmarium, sie wird immer dann geschlagen, wenn eine Schwester im Sterben liegt. Als Zeichen für ihre Mitschwestern, damit diese ans Bett der Sterbenden eilen, sich von ihr verabschieden und sie begleiten können. Deshalb ist die Tafel auch in der ganzen Klosteranlage zu hören. Nur Bob hat natürlich mal wieder nichts mitbekommen. Die Tafel… Das heißt, es ist so weit.
Sie muss sich von Mutter Margarethe verabschieden. Die Tränen, die sie über das Leiden Christi vergossen hat, sind noch kaum getrocknet und schon benässen neue ihr Gesicht. Sie ist aber auch nah am Wasser gebaut in letzter Zeit. Muss daran liegen, dass sie bald wieder durchs Purgatorium gehen muss. Ihre Blutung bekommt. Purgatorium ist das lateinische Wort für dieses monatliche Martyrium und es passt, findet Bob, ganz hervorragend. Ein Gang durch das Fegefeuer, jedes einzelne Mal! Vielleicht verkürzt diese Qual zu Lebzeiten ihre Zeit im Fegefeuer nach dem Tod. Ganz bestimmt sogar. Sie hofft, dass Mutter Margarethe auch unter monatlichen Schmerzen litt und jetzt nur ganz kurz ins Fegefeuer muss. Vielleicht muss sie sogar nur dran vorbeifliegen und dann auf direktem Weg ab ins Paradies. So wie Schwester Guta aus dem Kloster Günterstal, deren Geschichte sie einmal in einem Buch gelesen hat, das Mutter Margarethe ihr geliehen hatte.
Gemeinsam mit Alma eilt Bob durch den Kreuzgang rüber zum Krankenflügel. Alle anderen Schwestern sind schon da, stehen in gebührendem Abstand um Margarethes Bett und singen den Psalter. Neben dem Bett steht ein Priester, Bob erkennt Vater Michael, der gerade dabei ist, den Wein und die Hostie zu weihen. In diesem Moment beginnt Margarethes Gesicht zu leuchten wie die Sonne, als würde sie den wahrhaftigen Leib Christi in den Händen des Priesters erblicken.
Sie öffnet ihren Mund, um ihn zu empfangen und legt sich mit einem glückseligen Lächeln zurück auf ihr Kissen. Vater Heinrich spricht einen Segen und geht. Was für ein Glück, dass es bei ihnen die Möglichkeit gibt, die Krankenkommunion zu empfangen, so kann Mutter Margarethe beseelt und glücklich gehen. In anderen Gemeinschaften, mit denen man in Kontakt steht, ist in den letzten Jahrzehnten die strenge Klausur eingeführt worden. Priester dürfen nicht mehr einfach so in den Krankenflügel, was die Kommunion kurz vor dem Tod erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht. Hier zum Glück nicht.
Mutter Margarethe konnte mit dem Herrn auf den Lippen gehen und wurde von ihm in Empfang genommen. Ganz sicher. Er liebt sie, genauso wie er Bob liebt. Und alle anderen Schwestern, natürlich. Die nächsten Stunden verbringen Bob, Alma und ihre Schwestern mit Gebeten, Totenmessen und der Totenwache. Draußen scheint die Sonne, es ist ein wunderschöner und warmer Augusttag. Ein Vorgeschmack auf das Paradies, den hat ihnen Mutter Margarethe geschickt. Damit sie eine Vorstellung davon haben, wie gut es ihr jetzt geht auf dem ewigen Thron neben ihrem himmlischen Bräutigam.
Als die Sonne schon tief am Himmel steht, werden die Schwestern zur gemeinsamen Mahlzeit ins Refektorium gerufen. Eigentlich gibt es zu dieser Tageszeit nur eine karge Speise, oft sogar nur ein Getränk, aber heute wartet ein Festmahl auf Bob und die anderen. Gott sei Dank, denn Bob ist am Verhungern. Das ganze Weinen, Klagen und Trauern hat nicht nur müde gemacht, sondern auch unglaublich hungrig. Mutter Margarethe hatte schon vor einiger Zeit verfügt, dass am Tag ihres Todes und danach jährlich wiederholt eine Pitanz ausgegeben werden soll.
Und was für eine Pitanz! Nicht einer dieser mickrigen Zusätze, die geizige Städter manchmal zur Mahlzeit stifteten, kleine graue Brötchen aus Mehlresten oder saure Johannisbeeren, sondern lauter Köstlichkeiten. Lebkuchen, Pflaumenmus, Heringkrapfen, in Honig eingelegte Wachteln UND ein ganzes Schwein, gefüllt mit Steckrüben. Wo sie das wohl so schnell herbekommen haben? Dazu herrliches frisches Weißbrot.
Nach dem Gebet sitzen sie alle schweigend am Tisch und genießen die herrliche Speise. Dabei lauschen sie der Tischlesung. Schwester Angela liest zu Ehren von Mutter Margarethe eine Predigt vor, die diese vor einigen Jahren geschrieben hat. Eigentlich dürfen sie das nicht Predigt nennen, denn nur die Männer dürfen Predigen schreiben und halten, aber darauf scheißen sie. In ihrem Kloster nennen sie das Predigt und basta. Natürlich nur, wenn kein Mann es hört. Bob lauscht der Vorleserin und denkt an Mutter Margarethe. In der Predigt geht es um das Ende aller Zeiten und darum, dass die Schwestern sich nicht davor fürchten müssen. Denn sie sind die Gerechten, die Auserwählten. Was für eine schöne Gewissheit, denkt Bob versonnen, als sie sich ein Stück Weißbrot in den Mund steckt.
Plötzlich erschüttert ein ohrenbetäubendes Grollen das Refektorium. Die Wände erzittern, die Kerzen und Weinkrüge auf den Tischen kippen um, die Fenster zerspringen klirrend und die Schwestern stürzen sich auf den Boden, die Hände schützend über die Köpfe gelegt. Bob reißt Schwester Alma mit sich, die vor Schreck wie gelähmt scheint und mit dümmlich offenstehendem Mund auf den Kelch blickt, dessen Inhalt sich über ihren weißen Rock ergießt. „Runter!“, schreit Bob und beugt ihren Oberkörper über Alma. Das lauteste Grollen ist vorbei, doch jetzt rumpelt und knirscht es überall um sie herum unheilverheißend. „Raus, alle raus!“, ruft Mutter Klara, die Priorin der Gemeinschaft. „Das Gebäude stürzt ein, alle rüber ins Kornhaus! Dort im Keller sind wir sicher!“, schallt nun Mutter Irmgards brüchige Stimme durch den Raum.
Die alte Schaffnerin schwenkt die Schlüssel hoch über ihrem Kopf und gebietet allen, ihr zu folgen. Alma und Bob nehmen sich an den Händen und strömen mit den anderen Schwestern aus der Tür. Draußen ist vom paradiesischen Sommertag nichts mehr zu sehen. Der Himmel ist rabenschwarz. Hagelkörner so groß wie Hühnereier prasseln auf die Köpfe der Schwestern und zerstören die mit Liebe gehegten und gepflegten Pflanzen im Kräutergarten. Schützend halten sich die Schwestern ihre Obituare über den Kopf, die sie vom Totenritual noch alle bei sich haben, und machen sich daran, den Hof zu überqueren.
Immer wieder zucken grelle Blitze über den Himmel und tauchen alles in ein furchteinflößendes kaltes Licht. Einer davon muss direkt ins Dach des Dormitoriums eingeschlagen haben, unter dem sich das Refektorium befindet. Das ganze Gebäude droht einzustürzen. Als Bob an der Kirche vorbeieilt, kann sie es sich nicht verkneifen, zum Turm hochzuschauen. Die Glocken läuten sturm, um vor dem Unwetter zu warnen. Durch den ganzen Hagel kann sie den Glockenstuhl kaum erkennen.
Da wird es plötzlich wieder gleißend hell, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Langsam, ganz langsam bewegt sich der Glockenturm auf Bob zu. Sie hört, wie jemand ihren Namen ruft, doch sie kann sich nicht rühren und starrt wie gebannt auf die immer näherkommende Mauer. Dass sie sterben wird, wird ihr im selben Moment bewusst, in dem sie feststellt, dass sie noch immer ein Stück Weißbrot zwischen den Zähnen hat. „Ich habe zwar keine Kommunion mehr empfangen können, aber vielleicht zählt das ja auch“, ist das Letzte, was sie denkt. Und dann wird alles dunkel.
Disclaimer: Diese Kurzgeschichte ist entstanden im Rahmen eines Schreibworkshops des Arbeitskreises Critical Medievalism der Universität Freiburg. Ziel des Schreibworkshop war es, innerhalb von etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte zu verfassen.