Noch einmal Schwein gehabt
Mit eilenden Schritten und dunkler Mimik eilte Veit durch den Kreuzgang zum Hauptbau von St. Peter, dicht gefolgt von einem keuchenden Lehrling. „Aber… Herr! Ihr könnt doch nicht einfach…”, presste der Junge zwischen Schnappatmungen hervor. „Du wirst schon sehen, wie ich das kann, Michael. Weißt du, was das für ein Skandal wäre, wenn die Obrigkeit davon erfährt?” Veit blieb stehen und drehte sich zu Michael um, welcher sogleich auch mit seinem Lehrmeister zusammenstieß.
„Ja, natürlich aber…“, der Junge vermochte kein weiteres Wort zu sprechen, als sein Blick sich nach oben richtete und den Ausdruck seines Meisters auffing. „Aber nichts, Herr. Ihr… Ihr befindet euch in der Kapelle.“ „Habe ich mir doch gedacht. Dein Ungehorsam enttäuscht mich, Michael.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und öffnete die schwere, ornamentierte Tür, die vom Kreuzgang zum Hauptgebäude von St. Peter führte.
Michael seufzte. Nie hatte er seinen Herren so aufgebracht erlebt wie jetzt. Im Kerzenschein des Armleuchter bemerkte er, er hatte seinen Herren auch noch nie so rot gesehen. Er musste sich ein Lachen verkneifen, als auch er durch die Tür schritt und erschrak als diese hinter ihm zufiel.
Veit aber schenkte der Tür keine Beachtung und verschwand hinter dem Lettner aus dem Blickfeld seines Lehrlings. Dieser hatte sich, wie zu erwarten, in den Fresken der Kirche verloren. Sie zeigten Geschichten, welche ihn schon sein Leben lang begleiteten, und er liebte es, sie jedes Mal aufs Neue zu entdecken. Besonders das letzte Gericht, mit der thronenden Figur Christi erfreute ihn immer wieder. Aber heute blieb ihm keine Zeit dafür, die Sünder zu zählen, die in den Höllenfeuern für ihre Taten bezahlten.
„Michael!“, rief eine erzürnte Stimme aus der Kapelle, und dieser stolperte über seine eigenen Füße, um in einem respektvollen, aber zügigen Tempo bei seinem Meister zu sein. „Lass mich los!“, folgte kurz darauf, als der Junge endlich beim Portal der Kapelle angekommen war. Vater Jakob hielt eine junge Frau an ihrem Hemd fest, während diese sich mit Händen und Füßen wehrte. „Loslassen habe ich gesagt! Ihr wisst nicht, was ihr hier tut!“, nun packte auch Veit das Mädchen beim Kragen, während Vater Jakob losließ.
„Wir? Wir wissen nicht, was wir tun?“ Eine Hand ließ ab vom Kragen und zeigte in einer ausladenden Geste auf eine rote Zeichnung auf dem Boden der Kapelle, direkt vor der Statue des heiligen Petrus. Sie trug die vage Form des Petruskreuzes, war aber viel zu kurz und unförmig. Ein Viertel eines Kreises wurde versucht zu malen, jedoch ging dem Künstler wohl die Farbe aus, bevor der Kreis fertiggestellt werden konnte.
„Bruder, ich nehme an, die Dame ist von bösen Geistern besessen. So eine Tat… Ich kann mir bei allem, was heilig ist, nicht vorstellen, dass jemand bei Verstand so etwas tun würde. Das Blut des heiligen Petrus für so…“, Vater Jakob schluckte und atmete tief ein. „So eine Ketzerei zu verschütten.“
„Es ist keine Ketzerei!“
„Schweig!“ Veits Hand schnellte zurück ins Gesicht des Mädchens und hinterließ einen tiefroten Abdruck. Michael zuckte erneut zusammen. Aber es hatte den gewollten Effekt. Ein Moment der Stille breitete sich im Raum aus. Dann ein Knall.
Ein selbstgefälliges Grinsen huschte über das Gesicht des Mädchens. „Habe ich es nicht gesagt?“ Nun bewegte sich alles viel zu schnell. Ein brennendes Schwein kam in den Raum gerannt, ruhig starrte es den heiligen Petrus an. Blut floss aus seinen Augen und der Boden bebte.
„Teufelswerk…!“, flüsterte Vater Jakob und Veit ließ das Mädchen los, um sich gleich danach unbeholfen auf das nun quiekende Schwein zu stürzen. Michael sah dabei zu wie seine sonst so besonnenen Lehrer ihren Kopf verloren und quer durch die Kapelle liefen, im Schweinsgalopp der Sau hinterher. Er selbst stand fest angewurzelt wie eine Salzsäule in seiner Ecke, unsicher, was er nun tun sollte. Das Mädchen erlöste ihn durch ein Tippen auf seine Schulter von seiner Schockstarre und zeigte auf den unfertigen Bodenkreis, ein wenig verwischt von den Sauklauen. Sie legte den Kopf schief. Dann verstand er.
„Oh nein, ganz bestimmt nicht,“ fauchte er dem Mädchen zu. Sie erwiderte mit einem Augenrollen und ihr Gestus wanderte nach oben zu einem Riss in der Decke der Kapelle. „Hilf mir oder wir werden Petrus höchstpersönlich sehen.!“ Sie nahm seine Hand und führte Michael wie ein Hund zu ihrer Zeichnung. „Hände auf.“
Tausende Gedanken rasten durch das Gehirn des jungen Mannes, aber er gehorchte. Sekunden fühlten sich an wie Minuten, Minuten wie Stunden. Veit und Jakob waren noch mit dem Schwein beschäftigt, welches nun schon anfing nach Speck zu riechen, da waren das Mädchen und Michael auch schon fertig. Ein einziger Tropfen des Blutes des Petrus blieb übrig in dem kleinen Gefäß. Er wusste nicht, was ihn dazu getrieben hat, dem Mädchen zu helfen, sei es die Angst, der Teufel oder der Petrus, es machte keinen Unterschied als der erste Kiesel ihm auf den Kopf viel.
„Wir brauchen nur noch den Leib Christi…“, murmelte das unbekannte Mädchen, er wusste nicht mal ihren Namen. Stillschweigend hatte er alle ihre Befehle ausgeführt und reichte ihr nun mit seinen blutverschmierten Händen eine Hostie, welche er aus dem Tabernakel stibitzte. Es machte sowieso keinen Unterschied mehr. Das Ewige Licht lag zerbrochen vor diesem, und sein Lieblingsfresko war nun geprägt von tausenden Rissen als die Erde unerbittlich bebte. Die Fremde war nun alle Hoffnung, die ihm noch blieb. Er zuckte zusammen, als der letzte Tropfen auf die Hostie fiel und das Mädchen diese in derselben Bewegung in ihren Mund steckte. Gleichermaßen steckte Michaels Herz in seinem Hals, während er sie beobachtete. Hatte er das Richtige getan? Oder wurde er zu einem Instrument des Teufels?
Sein Frühstück leistete seinem Herz schon Gesellschaft als das Beben abrupt stoppte. Feist grinsend schaute das Mädchen ihn an, und für einen kurzen Moment war es ihm so, als würde ein Glorienschein ihren Kopf zieren. Wimmernd fiel er zu ihren Füßen und die Tränen begannen zu fließen, nachdem er nach oben schaute und alle Risse in der Kapelle verschwunden waren. Er bemerkte nicht einmal, dass der Speckgeruch verschwunden war.
„Michael!“ Ohne Erfolg versuchte Veit zu seinem Lehrling durchzudringen, als dieser sich schützend vor dem Mädchen aufrappelte.
„Sie ist eine Gesandte Gottes!“, rief er mit zitternder Stimme.
„Sie ist eine Hexe!“, donnerte Veit zurück, aber Michael gab nicht nach.
„Sie ist weg“, sprach Vater Jakob hinter Veit. Er hielt das schlafende Ferkel unversehrt in seinen Armen und Michael hörte nur noch wie das Kirchenportal zufiel, bevor er wieder in sich zusammensackte.
Disclaimer: Diese Kurzgeschichte ist entstanden im Rahmen eines Schreibworkshops des Arbeitskreises Critical Medievalism der Universität Freiburg. Ziel des Schreibworkshop war es, innerhalb von etwa einer Stunde eine eigene kurze Mittelalter-Geschichte zu verfassen.