Krieg, Fehde und Gewalt im Spätmittelalter: Im Interview mit Prof. Martin Clauss

Kriege und Schlachten sind fester Bestandteil unseres Bildes vom Mittelalter. Sie sollen von der Brutalität und Rohheit der Epoche zeugen und bilden den dramatischen Höhepunkt zahlreicher populärkultureller Inszenierungen. Von der Völkerwanderung bis zur Reformationszeit sind Kriege und Schlachten im Alltag mittelalterlicher Menschen allgegenwärtig, so jedenfalls die verbreitere Vorstellung – die insofern gar nicht so verkehrt ist, als die politischen Eliten der Zeit in der Regel stets auch Gewaltakteure waren.



Wir sprechen mit Prof. Dr. Martin Clauss von der Technischen Universität Chemnitz, der sich seit vielen Jahren, insbesondere unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen, mit der Militärgeschichte des Mittelalters auseinandersetzt, aber mit einem ganz speziellen Schwerpunkt: nämlich über die Militärgeschichte des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts, also über die Zeit, in der auch Oswald von Wolkenstein gelebt hat, dem wir aktuell eine eigene Themenreihe widmen.



Mittelalter Digital: Lieber Herr Clauss, die großen Schlachten des Mittelalters bestimmen unser allgemeines Bild von der mittelalterlichen Militärgeschichte, von denen einige regelrecht berühmt sind: die Schlacht von Hastings 1066 etwa, Crécy 1346 oder Agincourt 1415. Andere wiederum, wie Bouvines 1214, Poitiers 1356 oder Sempach 1386, sind heute nur noch von regionaler Bekanntheit. Was aber festzuhalten bleibt: Große kriegerische Auseinandersetzungen wie wir sie in jedem Spielfilm finden, scheinen vergleichsweise selten gewesen zu sein, wenn sie sich nicht gerade in einem größeren Konfliktkontext wie dem Hundertjährigen Krieg bewegen, oder?



Martin Clauss: Ja das stimmt. Eine große Feldschlacht mit vielen Kämpfern stellte immer eine enorme logistische Herausforderung und ein erhebliches Risiko für die beteiligten Parteien dar. Deswegen sehen wir, dass solche Schlachten in vielen Auseinandersetzungen gemieden wurden. Auch im Hundertjährigen Krieg, in dem es auf Grund der Länge des Konfliktes zu etlichen Schlachten kam, sehen wir immer wieder die Strategie der Schlachtvermeidung. Die häufigste Gewaltform mittelalterlicher Kriege dürften Plünderungszüge gewesen sein und Belagerungen.



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Der adlige Sänger und Dichter Oswald von Wolkenstein zählt zu den spannendsten Figuren des Spätmittelalters. Über ihn sind wir nicht nur aufgrund seines umfangreichen Liedwerks ungewöhnlich gut unterrichtet. Das Portrait aus seiner Liederhandschrift B (begonnen 1432) stellt die erste authentische Darstellung eines Dichters deutscher Sprache dar.



Mittelalter Digital: Auch wenn die großen Schlachten nun nicht Alltag waren, so war Gewalt für einen mittelalterlichen Menschen viel alltäglicher als für uns heute, allein wenn man die Aspekte wie die Kindererziehung, die Beziehung zwischen Mann und Frau oder Körperstrafen betrachtet. Da wir uns in einer unserer Themenreihen aktuell mit dem Südtiroler Ritter Oswald von Wolkenstein beschäftigen: Eine „große“ Schlacht wird er, soweit wir das sagen können, nicht erlebt haben. Gleichwohl wird er auf Preußenfahrt gewesen sein, gegen die Hussiten gekämpft haben, er wurde von seinem eigenen Bruder mit einem Schwert durchbohrt, brach einem Bischof die Nase, wurde belagert, gefangengenommen, gefoltert, hat Städte erobert und Turniere gefochten. War er mit dieser „Fülle“ von Gewalt die Ausnahme oder lassen sich dazu übergeordneter Aussagen treffen?



Martin Clauss: Übergeordnete Aussagen sind in diesem Bereich schwierig, weil es keine statistischen Untersuchungen zur Gewalthäufigkeit gibt und wir auch gar nicht die Quellengrundlage haben, um solche Analysen durchzuführen. Mir scheint es aber plausibel davon auszugehen, dass ein spätmittelalterlicher Adliger eine deutlich intensivere Gewalterfahrung hatte als wir heute im Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Oswald von Wolkenstein, über den wir etliche biographische Details kennen, ist hierfür ein gutes Beispiel. Körperliche Gewalt war in seinem Alltag sehr präsent, er hat sie erfahren und ausgeübt und wurde von jungen Jahren daran gewöhnt und auch darin ausgebildet. Er verfügte, um einen Begriff der modernen Soziologie zu verwenden, über ‚Gewaltkompetenz‘ und wusste diese situationsbedingt einzusetzen oder zu vermeiden. Diese Kompetenz können wir für mittelalterliche Adlige, die zum Ritter ausgebildet wurden, wohl allgemein annehmen, und diese Kompetenz kam auch, aber nicht nur, im Krieg zu Einsatz.  



Mittelalter Digital: Nun war Oswald als Adeliger und Ritter jemand, der qua Stand und Sozialisation zur Ausübung von Gewalt gedrängt wurde. Vom Hochadel wissen wir, dass ihm im Grunde das gesamte Mittelalter lang der Krieg zur Tugend gereichte. Der lesenswerte Sammelband „Der König als Krieger“, den Sie mit herausgegeben haben, zeigt anschaulich auf, dass selbst zu kämpfen oft genug notwendige gesellschaftliche Anforderung für einen Herrscher war. Die „Betenden“ und „Arbeitenden“ hingegen haben im mittelalterlichen Sozialkonstrukt andere Aufgaben bekommen; gleichwohl wissen wir etwa von streitbaren Bischöfen, Bauernheeren und Stadtaufgeboten. Wie lässt sich das Thema „Krieg und Gewalt“ für diese Gruppen der mittelalterlichen Gesellschaft beschreiben?



Martin Clauss: Die Dreiteilung der Gesellschaft in Betende (Kleriker), Kämpfende (Adlige) und Arbeitende (Bauern), auf die Sie hier anspielen, ist ein Idealbild und entspringt einer sehr spezifischen Kommunikationssituation zu Beginn des 11. Jahrhunderts. In den Wirklichkeiten mittelalterlicher Kriege funktioniert die Aufteilung nicht so einfach und trennscharf.

Zutreffend ist, dass der Adel im ganzen Mittelalter ein Kriegeradel war, der seine gesellschaftliche Stellung auch seiner Fähigkeit zur Kriegsführung verdankte. Damit geht aber nicht einher, dass die anderen beiden Gruppen nicht auch an Kriegen beteiligt waren – zunächst natürlich als Opfer der ritteradligen Gewalt, aber auch als aktive Kriegsteilnehmer. Wir wissen von zahlreichen Bischöfen oder Äbten, die aktiv ihre Truppen ins Feld geführt und auch eigenhändig gekämpft haben.

Die Tatsache, dass es zahlreiche intellektuelle Debatten um die Frage gab, ob und unter welchen Bedingungen ein Kleriker kriegerische Gewalt ausüben durfte oder sollte, belegt die Beteiligung dieser Personengruppe am Krieg. Und auch Bauern waren zahlreich als Kämpfer aktiv. Waffengesetzte verbieten den Bauern etwa das Tragen von Schwertern – in Friedenzeiten (!). Für den Kriegseinsatz sollten und mussten sie sich hingegen bewaffnen.  



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Große Schlachten wie jene in Crécy 1346 zu Beginn des Hundertjährigen Krieges bestimmen bis heute unser Bild vom Kriegführen im Mittelalter.



Mittelalter Digital: Es stellen sich selbst bei großen Schlachten des Mittelalters (erhebliche) Herausforderungen, sie zu fassen: Heereszahlen, die in Quellen eher einem heilsgeschichtlichen Narrativ als tatsächlichen Größen verpflichtet sind, fehlende archäologische Funde, Heroisierungs- und Entschuldigungstopoi und anderes mehr bilden hier nur die Spitze des Eisbergs. Wir können nur im Einzelfall aufzeigen oder wenigstens begründet vermuten, wie Einzelpersonen sozialisiert und ausgebildet wurden, über welche Ausrüstung sie wann verfügten oder wie sie sich in Gefechten verhalten haben, oder?



Martin Clauss: Ja, wir stehen in Sachen Schlachtrekonstruktion und Kriegserfahrung vor großen Herausforderungen auf Grund der Quellenlage. Ego-Dokumente sind selten, Analogien zu modernen Kriegserfahrungen problematisch und etliche mittelalterliche Texte sehr deutlich von Darstellungsabsichten und Erzähltraditionen geprägt.

Aus literarischen Texten lassen sich aber immer wieder Einblicke oder Eindrücke gewinnen, wenn etwa ironische Brechungen auf menschliche Ängste oder Sorgen von Kriegsteilnehmern verweisen, die mitunter nicht so weit weg von dem sind, was wir heute im Angesicht einer kriegerischen Konfrontation empfinden dürften: Auch mittelalterliche Ritter dürften Angst empfunden und ihre persönliche Unversehrtheit jenseits aller Heldenideale gedacht haben.



Mittelalter Digital: Die historiographischen Quellen schweigen über Oswald von Wolkenstein, bis er erwachsen geworden ist. Versatzstücke in seinem umfangreichen Liedgut, die einen wie auch immer gearteten biographischen Kern haben werden, geben immerhin Hinweise darauf, dass er wohl als fahrender Knappe seine militärische Ausbildung erfahren hat. Spätestens hier begeben wir uns auf das Terrain „literarischer“ Quellen, die im Detail noch einmal anders funktionieren (können) als historiographische. Welchen Stellenwert nehmen literarische Quellen, auch unter dem Gesichtspunkt, dass in höfischen Romanen viel gekämpft wird, für die Militärgeschichte des Mittelalters ein?



Martin Clauss: Den Stellenwert dieser Texte für eine moderne Militärgeschichte schätze ich als sehr hoch ein. Höfische Literatur wurde für ein kriegeradliges Publikum geschrieben, und der Krieg spielt hier als Thema eine große Rolle. Etliche dieser Texte werden von den Autoren explizit als wirklichkeitsnah markiert und sie dürften ein kriegskundiges Publikum kaum überzeugt haben, wenn sie sich zu weit von deren Erfahrungswissen entfernt hätten.

Sicherlich zeigen sie den mittelalterlichen Krieg nicht in allen Details wirklichkeitsgetreu, sie liefern aber doch interessante Einblicke, etwa zu Ausrüstung und Einstellung der Kämpfenden. So werden in etlichen Texten die Waffen ausführlich beschrieben und wir erhalten etwa auch einen Einblick in die verschiedenen Klänge und Geräusche, die man auf einem Schlachtfeld hören konnte. Und die Texte sind ein sehr guter Zugang zu Vorstellungen von Heldentum, Tapfer- und Männlichkeit, die den kriegeradligen Zugang vom Krieg prägten.

In meinen Veranstaltungen zum mittelalterlichen Krieg vergleiche ich literarische Texte mit Hollywoodfilmen: Wir erhalten interessante Einblicke in die Kriege etwa des 20. Jahrhunderts, wenn wir uns Kinofilme zum Thema ansehen, aber kein völlig realistisches Bild. Ähnlich verhält es sich mit den literarischen Texten des Mittelalters.



Mittelalter Digital: Bleiben wir noch einmal im literarischen Kontext: Im sog. Greifenstein-Lied, das im Konflikt zwischen dem Landesherrn Friedrich IV. von Tirol und regionalen Adelsfamilien, allen voran den Starkenbergern und Wolkensteinern zu verorten ist, besingt Oswalds Sänger-Ich die Aufhebung der Belagerung, an der es selbst teilgenommen hat:



‚Nu huss!‘ sprach der Michel      von Wolkenstain,

‚so hetzen wir!‘ sprach Oswalt   von Wolkenstain,

‚za hürs!‘ sprach her Lienhart    von Wolkenstain,

‚si müessen alle fliehen               von Greiffenstain geleich.‘



‚Nun hussa!‘ sprach der Michael von Wolkenstein,

‚Dann hetzen wir!‘ sprach Oswald von Wolkenstein,

‚Drauf los!‘ sprach Herr Leonhard von Wolkenstein,

‚Sie müssen allesamt fliehen von Greifenstein.‘



Da hueb sich ain gestöber          aus der gluet

all nider in die köfel,      das es alles bluet.

banzer und armbrost,   darzu die eisenhuet

die liessens uns zu letze,             di wurd wir freuden reich.



Da erhob ein Gestöber von Feuersglut

hinunter in die Felsen, dass alles blühte.

Panzer und Armbrüste schenkten sie uns zum Abschied,

dazu die Eisenhüte, da haben wir uns gefreut.



Die handwerk und hütten           und ander ir gezelt,

das ward zu ainer aschen           in dem obern veld.

ich hör, wer übel leihe,               das sei ain böser gelt.

also well wir bezalen,    herzog Friedereich.



Die Maschinen und Buden, ihr ganzes Lager,

das wurde zu Asche da im oberen Feld.

Man sagt, wer übel ausleiht, der kriegt’s bös zurückgezahlt.

So wollen wir bezahlen, Herzog Friedrich.



Schalmützen, schalmeussen      niemand schied.

das geschach vorm Raubenstrain           in dem ried,

das mangem ward gezogen        ain spann lange niet

von ainem pfeil, geflogen           durch armberost gebiet. […]



Scharmützen, Scharmetzeln hat niemand getrennt.

Da passierte es so manchem im Ried von Ravenstein,

dass ihm ein spannenlanger Nagel eingezogen wurde,

ein Pfeil, von einer Armbrust losgeschickt. […]



Oswald von Wolkenstein, Lieder. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählte Texte hrsg., übersetzt und kommentiert von Burghart Wachinger, Stuttgart 2007 (= Reclams Universal-Bibliothek 18490), S. 191-195, Kl. 85.



Nur ein kleiner Triumph, denn der Landesherr wird mit Hilfe der Bauern und Bürger der Umgebung die Oberhand gewinnen – Greifenstein selbst wird nach dem Entsatz noch mehrere Jahre lang belagert. Das muss eine für beide Seiten sehr zähe und langwierige Angelegenheit gewesen sein, bei der eine sehr überschaubare Anzahl von Kombattanten die meiste Zeit wohl mit Abwarten verbracht wurde. Wie sind wir generell über diese Art von kleinteiliger Konfliktführung unterrichtet und welche Rolle spielte spielten Belagerungen als Form der Kriegsführung?



Martin Clauss: Belagerungen waren im mittelalterlichen Krieg generell und besonders in den ‚kleinen Kriegen‘ zwischen Adelshäusern sehr wichtig. Die Kontrolle befestigter Plätze war militärstrategisch und vor allem herrschaftspolitisch wichtig. Das bedeutet aber nicht, dass hier zwingend große Kontingente beteiligt waren. Burgbesatzungen umfassten oft nur wenige Kämpfer – ja nach Größe der Burg auch weniger als 10 Personen – und nicht immer kam aufwändiges Belagerungsgerät zum Einsatz.

Informationen über diese Art der Kriegsführung erhalten wir etwa aus Rechnungsbüchern, in denen die Kosten für den Krieg verzeichnet wurden: Hier wurde aufgelistet, was für Sold, Verpflegung oder Material ausgegeben wurde. Hier können wir dann sehen, wie viele Akteure beteiligt waren, wie sie ausgerüstet waren und wie lange der Konflikt gedauert hat.



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Auf der Churburg im Vinschgau in Südtirol lassen sich heute noch spätmittelalterliche Waffen und Rüstungen bewundern. Dieses Exemplar zählt zu den ältesten erhaltenen und stammt aus der Zeit Oswalds von Wolkenstein, der sehr ähnliche Stücke im Besitz gehabt haben muss.



Mittelalter Digital: Nun sind wir einigermaßen gut darüber unterrichtet, wie Oswald für kriegerische Auseinandersetzungen ausgestattet war. Rechnungsbücher, wie er sie 1418 für seine neue „gestohlene“ Burg Hauenstein anfertigen ließ oder jenes nach seinem Tod aus dem Jahr 1447, geben recht detailliert Auskunft über das dort gelagerte Waffenarsenal. So hortete Oswald auf der Burg, die heute noch als Ruine zu besichtigen ist, über die Zeit u. a. sechs Kettenpanzer, ebenso viele Hundsgugeln, einen kompletten Plattenharnisch aus Mailand, dazu Hauben, Eisenhüte, Schaller, Harnischärmel und -schürzen, ungarische Tartschen und einen türkischen Kolben, Panzerkrägen, 15 Armbrüste mit Zubehör und Munition in tausendfacher Ausführung, Spieße, Eisenstecken, Seile und Pech, kleine und große Handgewehre, eine Steinkanone und einen Mörser, für die Fässchen mit Pulver, Schwefel und Salpeter bereitstanden.

Zudem hat sich auf der Churburg im Vinschgau – mit deren Herren Oswald ebenfalls bekannt war – die größte Sammlung mittelalterlichen Rüstzeugs samt Waffen erhalten, von denen sich einige Stücke direkt in Oswalds Lebenszeit datieren lassen. Ist Oswald hier ebenfalls ein quellenreicher Glücksfall oder sind wir über Zeitgenossen ähnlich gut unterrichtet?



Martin Clauss: Mir scheint er eher ein Glücksfall zu sein und die Dichte der Informationen nicht typisch. Sicherlich schlummert hier noch einiges an Material in diversen Archiven, und gerade im städtischen Kontext erhalten wir immer wieder erstaunlich detaillierte Einblicke in die Kriegsökonomie des Spätmittelalters.



Mittelalter Digital: Immer mehr Projekte versuchen sich der Militärgeschichte des Mittelalters ganz handgreiflich zu nähern, indem sie etwa quellenbasiert Rüstungen und Waffen nachbauen und in Feldversuchen auf ihre Wirkung untersuchen. Im Grunde erst einmal nichts Neues, denn Ähnliches haben schon Historiker wie Hans Delbrück vor einer kleinen Ewigkeit gemacht. Ist der Bereich der Experimentellen Archäologie einer, aus dem Sie selbst für Forschungen Kenntnisse ziehen oder in dem Sie arbeiten?



Martin Clauss: Ich persönlich halte diesen Zugang zum mittelalterlichen Krieg für sehr spannend und den Austausch mit diesen Expert*innen für fruchtbringend. Teilweise können die Erkenntnisse und Erfahrungen, die durch den Umgang mit nachgebauten Waffen gewonnen werden, neue Fragen aufwerfen oder Lücken in den Quellen adressieren.

An der TU Chemnitz läuft gerade ein Projekt zur Belliphonie, also zu der akustischen Dimension des mittelalterlichen Krieges. Dabei geht es auch darum, was gehört werden konnte auf einem Schlachtfeld. Hierzu ist es spannend, sich mit Hilfe von nachgebauten Helmen und Kettenhauben der Frage zu nähern, was man unter einer vollständigen Panzerung eigentlich hören konnte oder welche Geräusche entstanden, wenn sich ein Ritter im Plattenpanzer bewegt hat.



Mittelalter Digital: Sie selbst betrachten die mittelalterliche Militärgeschichte aus einer kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Perspektive: Was fasziniert Sie selbst an dieser Zugangsweise, und welche Erkenntnisse lassen sich durch sie gewinnen – etwa im Gegensatz zur „klassischen“ Geschichtsforschung, die sehr auf Zahlen, Daten und Fakten fokussiert war?



Martin Clauss: Diese Zugangsweise ist zunächst einmal eine Reaktion auf die Quellenlage, die zu kulturhistorischen Aspekten deutlich reicher ist als zu allen anderen. Narrative Texte bilden die mit Abstand größte Quellengruppe und diese zielt auf Vorstellungswelten und Mentalitäten. Insofern ist ein Zugang, der diese Fragen aufgreift und ernst nimmt auch ein Beitrag zum besseren Verständnis der Quellen und damit zur Quellenkritik.

Insofern müssen beide Aspekte – die klassische Militärgeschichte und ihre kulturwissenschaftliche Weiterung – ineinandergreifen und sich gegenseitig befruchten. Gerade in kulturhistorischen Aspekten liegt dabei viel Potenzial für interepochale und transdisziplinäre Kooperation, die nach langen Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüchen fragt. Die Suche nach dem Mittelalterlichen in modernen Kriegen und nach dem Modernen im Mittelalter fasziniert mich.



Mittelalter Digital: Lieber Herr Clauss, schließen wir am Ende den Kreis: Die meisten Menschen beschäftigen sich mit der mittelalterlichen Militärgeschichte über deren Darstellung in der Populärkultur – ein Thema, das man eigens facettenreich behandeln müsste (Ich selbst habe mir etwa einmal angeschaut, was uns der Einsatz von Helmen in „mittelalterlichen“ Filmen, Serien und Videospielen über die Inszenierung von Geschichte in der Populärkultur verrät). Trotzdem der Versuch: Wie ist Ihrer Einschätzung nach die Darstellung von Krieg und Auseinandersetzung in der modernen Medienlandschaft zu bewerten? Gibt es Aspekte, die bemerkenswert sind oder die Sie womöglich auch kritisch betrachten?



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Krieg und Mittelalter sind auch in der Populärkultur eng miteinander verbunden. Dabei soll die Inszenierung oft so authentisch wie möglich wirken, wie hier im Videospiel ›Kingdom Come: Deliverance‹. Wenn euch interessiert, wie im Speziellen Helme in der Populärkultur inszeniert werden (oder nicht) und wie viel das mit dem Mittelalter zu tun hat, sei euch der Beitrag ›Helmpflicht im Mittelalter (?)‹ ans Herz gelegt.



Martin Clauss: Das ist ein sehr breites Feld – und in meinen Augen ein sehr spannendes. In der universitären Lehre ist der Einsatz von modernen Filmen oder Computerspielen sehr produktiv. Das Feld an Filmen, Spielen, Comics und Büchern ist dabei riesig und kaum zu überblicken. Mir geht es in der Beschäftigung mit der Populärkultur nicht in erster Linie um die Frage, wie gut oder authentisch die Darstellungen zu den Erkenntnissen der modernen Militärgeschichte passen.

Spannender finde ich Fragen nach Darstellungsabsichten und -konventionen. Auch hierzu kann ich ein Beispiel aus der Belliphonie anführen: Wir alle kennen aus Filmen das Geräusch, das ein Schwert macht, wenn es aus der Scheide gezogen wird. Es markiert in zahllosen Szenen den Anfang eines Kampfes oder signalisiert die Kampfbereitschaft. Letztens erzählte mir ein Kollege, der auch im Reenactment und der experimentellen Archäologie tätig ist, dass beim Ziehen eines Schwertes gar kein Geräusch entsteht: Die Scheide ist aus Leder und Holz gefertigt, so dass das Schwert lautlos aus der Scheide gleitet. Hier haben wir also alle einen "falschen" Sound im Ohr, der aber für die Dramaturgie der Filme wichtig ist.

Sicherlich sind etliche filmische Darstellungen hochproblematisch, was in meinen Augen aber weniger an "falschen" Inhalten, als in politischen Instrumentalisierungen oder Gewaltverherrlichungen liegt. Insofern sind Filme und Comics ein spannendes Forschungsfeld und ein wichtiger Bestandteil der universitären Ausbildung – ein guter Weg zu Informationen über den mittelalterlichen Krieg sind sie aber nicht (immer).



Mittelalter Digital: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!



Das Interview führte Tobias Enseleit.