Drachen im Mittelalter

Die Sonne verdunkelnde Schwingen, Zähne scharf und lang wie Schwerter und ein Atem wie Feuer, geschützt durch einen Panzer stahlharter Schuppen, gebettet auf einem Hort von Gold und Edelsteinen, nur überwindbar von den tapfersten Helden: Keine Kreatur ist in unserer Vorstellungswelt heute so eng verbunden mit dem Mittelalter wie der Drache. Woher stammen diese Vorstellungen? Und wie stellten sich die Menschen des Mittelalters diese Kreatur vor?¹



Seit Anbeginn der Zeit tritt uns der Drache kulturübergreifend als mythisches Geschöpf und furchterregendes Mischwesen entgegen – mal Schlange, dann Echse, mal Raubkatze, dann Greifvogel, oder eine Mischung aus allem. Vorstellungen von Drachen müssen so alt wie die Menschheit sein.² Heutzutage gehören die Kreaturen und die Epoche des Mittelalters nahezu untrennbar zusammen: Ganz gleich ob Kinoblockbuster, Serie, Videogame oder Kinderspiel – wenn es mittelalterlich wird, scheint der Drache nicht fern zu sein. Insbesondere dann, wenn es auch etwas phantastisch werden darf.



Dabei hat kaum ein anderer moderner Text unsere heutigen Vorstellungen von Drachen so nachhaltig geprägt wie John R. R. Tolkiens berühmtes Fantasymärchen ›Der Hobbit‹, in welchem der Drache Smaug im Einsamen Berg einen ungeheuer großen Schatz bewacht:³



Da lag er, ein gewaltiger rotgoldener Drache in tiefem Schlaf. Ein Dröhnen kam aus seinem Maul und seinen Nüstern, und Rauchfäden stiegen auf, aber sein Feuer schwelte nur, wenn er schlief. Unter ihm, unter seinen Gliedmaßen und dem riesigen zusammengerollten Schwanz und überall ringsum, soweit der Boden zu übersehen war, lagen haufenweise ungezählte Kostbarkeiten, Gold, geschmiedet oder roh, Gemmen und Edelsteine und Silber, das in der Glut rötlich schimmerte.



Mit angelegten Flügeln, wie eine unermesslich große Fledermaus, lag Smaug ein wenig auf die Seite gedreht, so dass der Hobbit seine Unterseite und auf den langen, bleichen Bauch sehen konnte, der sich in den vielen Jahren auf diesem kostbaren Bett mit einer Kruste von Gemmen und Goldstücken bedeckt hatte. Hinter ihm, wo das trübe Licht bis zu den Wänden reichte, hingen Panzerhemden, Helme, Äxte, Schwerter und Speere, und davor standen in Reihen Krüge und Schalen voller unschätzbarer Reichtümer.



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Der Drache Smaug ist unzählige Male ins Bild (und auf den Bildschirm) gesetzt worden. Rote Feuerdrachen stellen in vielen modernen Fantasywerken die stereotype Drachenart dar – ganz gleich, ob im ›Dungeons and Dragons‹-Universum oder im ›Warhammer Fantasy‹-Franchise. Tolkien hat Smaug in Anlehnung an Drachen mittelalterlicher Texte – allen voran dem angelsächsischen Heldenepos ›Beowulf‹ – konzipiert und damit eine Figur geschaffen, die einerseits große Ausstrahlung auf nachfolgende Drachendarstellungen besitzt und die andererseits in adaptierter Form durch Peter Jacksons Verfilmung von ›Der Hobbit‹ (Neuseeland / USA: 2012-2014; Regie: Peter Jackson) vor wenigen Jahren auf die große Leinwand gekommen ist.



Zu sagen, dass der Anblick Bilbo den Atem nahm, wäre noch zu wenig. Es gibt keine Worte mehr für solches Erstaunen, seit Menschen die Sprache vergessen haben, die sie einst von den Elben erlernten, als die Welt noch voller Wunder war. Bilbo hatte schon allerlei von Drachenhorten singen und sagen gehört, aber die Pracht und der Glanz eines solchen Schatzes und die Begierde, die er zu wecken vermochte, waren ihm nie so ganz aufgegangen. Nun war sein Herz durchdrungen und verzaubert von demselben Verlangen, das auch die Zwerge erfüllte, und er starrte regungslos, den furchtbaren Hüter fast vergessend, auf das aller Zählung spottende Gold. – John Ronald Reuel Tolkien, Der Hobbit oder Hin und zurück. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Krege, Stuttgart 1997, S. 174-175.



Tolkien erfand Smaug freilich nicht aus dem luftleeren Raum heraus (genauso wenig wie die anderen Drachen, die über seine verschiedenen Erzählungen und Texte hinweg eine Rolle spielen). Als Philologe und Mediävist konnte Tolkien bei der Niederschrift seiner Werke auf einen ganzen literarischen Schatz zurückgreifen. Bei der Konzeption von Smaug ließ er sich insbesondere vom frühmittelalterlichen Heldenepos ›Beowulf‹ inspirieren, dessen gleichnamiger Protagonist in seiner letzten Bewährungsprobe einen gewaltigen Drachen besiegen muss, von diesem dabei selbst jedoch tödlich verwundet wird. Hier findet sich bereits das Motiv des Schatzhortes, das bis heute eng verwoben ist mit dem Drachen.



In der Figur Smaug finden sich viele Versatzstücke, die wir als typisch für Drachen empfinden: ihre enorme Größe und Wildheit, die Fähigkeit, Feuer zu speien, ihre Gier nach Gold und Edelsteinen, die sich in riesigen Horten widerspiegelt. Unzählige moderne Fantasywerke haben sich an Tolkiens Konzeption von Drachen orientiert, haben sie adaptiert, in Teilen modifiziert und sich an ihr abgearbeitet.



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Drachen sind heutzutage und bereits seit Jahrzehnten integraler Bestandteil fast jeder Mittelalter-Fantasy. Wer sich in kindlich-jugendlichen Jahren (und darüber hinaus) etwa in die Welten von ›Dungeons and Dragons‹ oder ›Das Schwarze Auge‹ begeben hat (ganz gleich, ob mit Stift und Papier oder Mouse und Tastatur gewappnet), wird zwangsläufig auch den geschuppten Bestien begegnet sein. Tolkiens Einfluss auf das Genre der Fantasy erstreckt sich nicht nur auf Drachen: Die typische Heldengruppe, oft zusammengesetzt aus Streitern verschiedener Rassen wie Menschen, Zwergen, Elfen, Halblingen und Halborks und oben in charakteristischer Weise ins Bild gesetzt, hat der Idee nach ihren untrügerischen Ursprung in Mittelerde⁴.



Waren Drachen vor wenigen Jahren noch vornehmlich in den exotischen Nerd- und ausgefalleneren Hobbynischen beheimatet, so sind sie nun allgegenwärtig: in populären Serien wie ›Game of Thrones‹ oder ›The Witcher‹, in Spielfilmen wie ›Harry Potter‹, in Animationsfilmen wie ›Drachenzähmen leicht gemacht‹, in Videospielen wie der ›Dragon Age‹-Reihe oder ›The Elder Scrolls V: Skyrim‹ und oder in so gut wie jedem Mittelalterbuch und -puzzle für Kinder.⁵



Es gibt in der Medienlandschaft so viele Drachen und artverwandte Kreaturen wie Lind- und Tatzelwürmer, Cockatrice und Wyvern, dass sie alle aufzuzählen, beinahe unmöglich ist. Auch wenn es bereits in Antike und Mittelalter verschiedene Arten von Drachen gab, so findet sich heute in der Literatur-, Medien- und Spielzeuglandschaft ein nie dagewesener Artenreichtum, der ganz unterschiedliche Spezies umfasst, die jeweils wieder verschiedene Funktionen ausfüllen können:



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Die populärkulturellen Fantasywelten werden nicht nur von Drachen bevölkert, sondern auch von artverwandten, aber minderen Kreaturen wie beispielsweise dem Lindwurm. Diese bieten in progressorientierten Rollenspielen einerseits die Möglichkeit, sich bereits vor Spielende gegen drachenähnliche Geschöpfe zu behaupten, und erweitern andererseits das Bestiarium der fiktiven Welten. Zum Lindwurm, der in der Welt von ›Warhammer Fantasy‹ auch als Reittier für besonders garstige Orks (auch hier lässt Tolkien grüßen) dienen kann, heißt es etwa: „Aus der Ferne könnte man einen Lindwurm mit einem Drachen verwechseln, doch diesen brutalen Bestien ist nichts Edles zu eigen“.



Es gibt Feuerdrachen und Walddrachen, schwarze Drachen und Eisdrachen, Zombiedrachen und Babydrachen. Es gibt Drachen mit Hörnern und ohne Hörner. Drachen, die Gift speien oder Blitze schießen. Drachen, die auf Berggipfeln hausen, und Drachen, die in Gewässern leben. Es gibt Drachen, welche die Rolle des klassischen Bösewichtes ausfüllen, und Drachen, die entweder anfänglich verkannte Wesen sind, die sich später als freundlich und hilfsbereit entpuppen, oder die Anlehnung an östliche Drachenkonzeptionen und in Abgrenzung zu tolkienschen Stereotypen gleich als positive Kreaturen inszeniert werden, wie etwa der Glücksdrache Fuchur in ›Die unendliche Geschichte‹ von Michael Ende.



Glücksdrachen gehören zu den seltensten Tieren in Phantásien. Sie haben keine Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Drachen oder Lindwürmern, die wie riesige, ekelhafte Schlangen in tiefen Erdhöhlen hausen, Gestank verbreiten und irgendwelche wirklichen oder vermeintlichen Schätze hüten. Solche Ausgeburten des Chaos sind meist von boshaftem oder grämlichem Charakter, haben fledermausartige Hautflügel, mit welchen sie sich lärmend und plump in die Luft erheben können, und speien Feuer oder Qualm. Glücksdrachen dagegen sind Geschöpfe der Luft und Wärme, Geschöpfe unbändiger Freude, und trotz ihrer gewaltigen Körpergröße so leicht wie eine Sommerwolke. Darum brauchen sie keine Flügel zum Fliegen. Sie schwimmen in den Lüften des Himmels wie Fische im Wasser. Von der Erde aus gesehen gleichen sie langsamen Blitzen. Das Wunderbarste an ihnen ist ihr Gesang. Ihre Stimme klingt wie das goldene Dröhnen einer großen Glocke, und wenn sie leise sprechen, so ist es, als ob man diesen Glockenklang von fern hört. Wer je solchen Gesang vernehmen durfte, vergisst es sein Lebtag nicht mehr und erzählt noch seinen Enkelkindern davon. – Michael Ende, Die unendliche Geschichte. Von A bis Z mit Buchstaben und Bildern versehen von Roswitha Quadflieg, Stuttgart 1979, S. 68-69.



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Die Verniedlichung von Drachen wird in der Forschung mitunter als „Disneyfication“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die Kreaturen ihre furchterregenden Eigenschaften gänzlich verlieren, um als süße Knuddeltiere den Bedürfnissen von (Klein-)Kindern nachzukommen. Tatsächlich trifft diese These auf die Disney-Filme selbst nicht zu. In ›Dornröschen‹ (USA 1959: Disney) und ›Die Hexe und der Zauberer‹ (USA 1963: Disney) treten Drachen in traditionellem Gewand auf. Und selbst der jüngste „Drache“ in einem Disney-Film, die selbstverliebte Riesenkrabbe Tamatoa, weist viele klassische Drachenmotive auf: Er besitzt einen Schatzhort in einer außerweltlichen Höhle, sammelt dort seltene und wertvolle Gegenstände, ist auf unangenehme Weise von sich selbst eingenommen, und sein Hab und Gut ist über die Jahre hinweg mit seinem natürlichen Panzer zusammengewachsen, was den Kampf der beiden Helden gegen ihn nicht gerade erleichtert. Das Beispiel zeigt, dass Drachen heutzutage in anderen Kontexten auch in einer ganz neuen Erscheinung auftreten können.



In aller Regel begegnen uns heute Drachen in einem Kontext, der uns mittelalterlich erscheint. Doch auch wenn es vielleicht so scheinen mag: Drachen sind keine Erfindung des Mittelalters. Bereits in der Frühzeit und der Antike bevölkern die Kreaturen die Imaginationswelten der Zeitgenossen und bereiten ein Erbe vor, welches das Mittelalter dankbar annimmt, modifiziert und weiterführt.



Bevor er den endgültigen Weg in jene Sagenwelt antrat, deren Bewohner er schon immer war, konnte der Drache auf eine zweitausendjährige Anwesenheit im kollektiven Bewusstsein Europas zurückblicken. Er begründete mehr als nur einen Archetyp oder eine erste Urerfahrung, die sich im Symbol des Flugdrachens ihr eigenes zeitloses Bild geschaffen hatte […]. – Bernd Roling, Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, London / Boston 2010 (= Mittellateinische Studien und Texte 42), S. 553.



Drachen in der Antike und im Frühmittelalter

Woher die Vorstellungen von Drachen kommen, ist bis heute umstritten. Bezeichnend ist, dass sich Vorstellungen und Erzählungen von Drachen in vielen Kulturen unabhängig voneinander wiederfinden. Sind sie die Überreste mythisch-kollektiver Erinnerungen an urzeitliche Riesenechsen? Haben bei ihrer Entstehung Begegnungen mit Schlangen, Raubkatzen und Krokodilen eine Rolle gespielt, die innerhalb eines Erzählungsschatzes zu einer einzigen die menschliche Natur bedrohenden Entität verschmolzen sind? Eine andere mögliche Erklärung ist, dass der Drache eine kulturhistorische Funktion erfüllt:



Die häufige Begegnung zwischen Drache und Kulturheros deutet darauf hin, dass hier eine mythische Kulturentstehungs-„Theorie“ vorliegt. Kultur kann sich erst entfalten, wo der „Drache“ (das Barbarische) besiegt ist. […] Der barbarische „Anfang“, der Drache also, wird so monströs fantasiert, um damit die ungeheure Gewalt der eigenen Kultur zu erklären. Psychoanalytisch gesehen […], ist der Drache ein Container, in dem das Unerträgliche der eigenen (oralen) Aggression und die Bereitschaft zur brutalen Vernichtung des anderen „untergebracht“ und „verstaut“ werden – es ist das „Draußen“, nämlich das Wilde und Unmenschliche, das uns bedroht, das Barbarische „jenseits der Grenze“. Den Drachen töten heißt, die eigene Kultur einzuhegen gegen eine Gewalt, die doch ihr selbst eigentümlich ist. – Hartmut Böhme, Das monströse Tier – Spiegel des Menschen, in: Luca Tori / Aline Steinbrecher (Hrsg.), Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit, Genève 2012, S. 55-56.



Nach diesem Verständnis ist der Drache also als Symbol für Gewalt und Chaos, ein Feind von Zivilisation und Kultur, die erst dort entstehen können, wo ein Held den Drachen vernichtet oder vertreibt. Die Erzählungen der griechischen Antike kennen Heroen, die einen Drachen töten müssen: etwa Herkules und die Hydra oder Apollo und der Python. Den Griechen verdankt der Drache auch seinen Namen, während germanische Wurzeln die Grundlage für synonyme Benennungen (wie Schlange, (Lind-)Wurm usw.) und als parallel existent gedachte Spezies darstellen:



Der Name «Drache» hat seinen Ursprung im Griechischen: drákon, eine Nominalbildung zum Verb dérkomai (sehen, blicken), bedeutet so viel wie «der Starrende, der mit starrem Blick Schauende». Dies bezieht sich wahrscheinlich auf das allen Reptilien gemeinsame Fehlen der Augenlider und sekundär auf seine weitverbreitete Wächterfunktion. Die in den germanischen Sprachen alternativ anzutreffende Bezeichnung «Wurm» (vgl. Lindwurm, altenglisch wyrm, altnordisch ormr) für den Drachen hingegen verweist auf den schlangenähnlichen Körper. – Thomas Honegger, Der Drache: Herausforderer von Heiligen und Helden, in: Luca Tori / Aline Steinbrecher (Hrsg.), Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit, Genève 2012, S. 194.



Für das Mittelalter waren im Hinblick auf Drachen insbesondere zwei Traditionen maßgeblich. Zum einen die biblische, die am prominentesten in der Genesis und der Apokalypse von schlangen- bzw. drachenartige Kreaturen berichtet (dazu später mehr) und durch welche die Kreatur in die Nähe des Teuflischen gerückt oder gar als Personifikation Satans inszeniert wurde. Dieser in der Bibel grundgelegte allegorische Gehalt wurde durch das exegetische Schrifttum für das Mittelalter ausgebreitet und fand Eingang in zahlreiche literarische Gattungen, die Drachen thematisieren, wie etwa die Predigt, die Heiligenvita oder mitunter die höfische Literatur.



Den zweiten Traditionszweig bilden die naturwissenschaftlichen Schriften der Antike, allen voran die Naturgeschichte des römischen Gelehrten und Verwaltungsbeamten Plinius des Älteren († 79), und der sog. ›Physiologus‹, eine allegorisch-religiöse Naturkunde, deren Entstehung ins 2. Jahrhundert datiert wird und die weit ins Mittelalter ausstrahlte.



Neben der Naturgeschichte des Plinius‘ führen mittelalterliche Texte als antike Quelle unter anderem die Werke des Solinus und des Aristoteles auf, die dem Drachen jeweils weitere Eigenschaften zuschreiben, wie etwa ihre Eigenart, die Atemluft durch enge Nasenlöcher einzuziehen, während ihnen die Zunge aus dem Maul hängt. Auf der Grenze zwischen Antike und beginnendem Mittelalter ist es dann der bedeutendste Enzyklopädiker dieser Zeit, der spanische Bischof Isidor von Sevilla († 636), der das Wissen des Altertums zusammenfasst und dessen Werke in der Folge enorme Wirkung entfalten.



Plinius und die Drachen der römischen Antike

Die Schilderungen des Römers Plinius sind unter anderem deshalb bezeichnend, da sie wie viele andere antike Texte (und in der Folge auch mittelalterliche und moderne Texte) die Grenzen zwischen (Riesen-)Schlangen und Drachen verschwimmen lassen. Insbesondere ein Charakteristikum des Drachen, welches in der Folge auch von mittelalterlichen Autoren weitertradiert wird, ist seine natürliche Feindschaft zum Elefanten.



Die von Plinius beschriebenen Äußerlichkeiten und Eigenschaften der dracones, deren größten Exemplare vornehmlich im fernen Indien beheimatet gewesen sein sollen, wo die Kreaturen ganze Hirsche und Stiere verschlingen, lassen dabei an riesige Würgeschlangen denken:



In Afrika gibt es Elefanten jenseits der an den Syrten gelegenen Wüsten auch in Mauretanien, ferner, wie bereits gesagt, bei den Äthiopiern und Troglodyten; die größten aber bringt Indien hervor, wie auch die in beständiger Feindschaft mit ihnen lebenden Schlangen, die ihrerseits ebenfalls von einer solchen Größe sind, dass sie einen Elefanten leicht umschließen und in den Windungen des Knotens ersticken können. Der Kampf aber findet zugleich sein Ende für beide, denn der Besiegte erdrückt beim Fallen durch sein Gewicht die Schlange, die ihn umschlungen hat.



Elephantos fert Africa ultra Syrticas, solitudines et in Mauretania, ferunt Aethiopes et Trogodytae, ut dictum est; sed maximos India bellantesque cum iis perpetua discordia dracones tantae magnitudinis et ipsos, ut circumplexu facili ambiant nexuque nodi praestringant. Conmoritur ea dimicatio, victusque conruens conplexum elidit pondere. – C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Buch VIII, hrsg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Kempten 1976, S. 34-37.



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Der Kampf zwischen dem Drachen und dem Elefanten ist auch im Mittelalter in im weitesten Sinne naturkundlichen Texten wie Bestiarien, Enzyklopädien und Physiologi unzählige Male anschaulich ins Bild gesetzt. Mit Hilfe seines langen schlangenartigen Körpers wickelt der Drache den Elefanten ein, um ihn erst zu Fall zu bringen und dann zu töten.



So unschön die Auseinandersetzung zwischen dem Drachen und dem Elefanten für die beiden Tiere hier endet, Plinius‘ Beschreibung ihrer Feindschaft endet noch lange nicht. Beide Geschöpfe sind sich ihrer Stärken und Schwächen durchaus bewusst und versuchen sie zu nutzen, um ihren Widersacher zu überwinden:



Bewundernswert ist die jedem von beiden Tieren angeborene Klugheit, wie ein Beispiel zeigt: Die Schlange hat Schwierigkeit, sich zur Höhe des Elefanten zu erheben; sie erspäht daher den ausgetretenen Weidepfad und stürzt sich von einem hohen Baum (auf ihn) herab. Er aber weiß, dass er gegen die ihn umwindende Schlange im Nachteil ist, und sucht sich deshalb an einem Baum oder einem Felsen zu reiben. Die Schlange bemüht sich, dies zu verhindern, indem sie zuerst seine Beine mit ihrem Schwanz umschlingt; er versucht mit seinem Rüssel die Schlingen zu lösen. Die Schlangen aber kriechen mit dem Kopf in die Nase, hemmen den Atem und zerfleischen zugleich die weichsten Teile. Kommt die Schlange einem Elefanten in den Weg, so richtet sie sich vor ihm auf und greift vor allem die Augen an. So kommt es, dass man viele Elefanten blind und von Hunger und zehrendem Gram ermattet findet.



Mira animalium pro se cuique sollertia est ut his una: ascendendi in tantam altitudinem difficultas draconi; itaque tritum iter ad pabula speculatus ab excelsa se arbore inicit. Scit ille inparem sibi luctatum contra nexus; itaque arborum aut rupium attritum quaerit. Cavent hoc dracones ob idque gressus primum alligant cauda; resolvunt illi nodos manu. At hi in ipsas nares caput condunt pariterque spiritum praecludunt et mollissimas lancinant partes. Idem obvii deprehensi in adversos erigunt se oculosque maxime petunt. Ita fit, ut plerumque caeci ac fame et maeroris tabe confecti reperiantur. – Plinius, Naturkunde, S. 36-39.



Weshalb die Drachen die Elefanten so vehement attackieren? Plinius nennt die Begründung, die in modifizierter Form auch in der mittelalterlichen Tradition erhalten bleibt: Drachen verfügen von Natur aus über eine sehr hohe Körpertemperatur, die sie mit dem kalten Blut der Elefanten abzukühlen erhoffen. Dabei sind die Drachen so groß, dass sie das ganze Blut eines Elefanten in sich aufnehmen können. Auch hier kommt es vor, dass die blutleeren Elefanten auf die vollgesogenen Drachen fallen und diese erschlagen. Die Notwendigkeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kreaturen liegt damit in der natürlichen Konstitution des Drachen begründet.



Grundlagen für das Mittelalter: Isidor von Sevilla

Daneben schuf Isidor von Sevilla für das Mittelalter ein bedeutendes und vielzitiertes Fundament, das die Vorstellungen von Drachen in zwei Aspekten bestärkte – erstens ihre enorme Stärke, die insbesondere im kraftvollen Ausschlagen ihrer Schwänze zum Ausdruck kommt, und zweitens die Existenz eines wertvollen Edelsteins, der in den Gehirnen der Drachen heranwächst:



Der Drache ist die größte unter den Schlangen, wenn nicht gar unter allen Landtieren. […] Von Höhlen aus erhebt er sich oft in die Luft, wodurch diese von ihm aufgewirbelt wird. Er besitzt einen Kamm, hat ein kleines Maul und einen schmalen Hals, durch welche er die Atemluft einzieht und aus denen die Zunge hängt. Er hat die Stärke nicht in den Zähnen, sondern im Schwanz, und dessen Schläge schaden mehr als die Kiefer. Keine Gefahr geht ferner vom Gift aus, aus dem Grund, dass das Gift zum Töten keine Notwendigkeit darstellt, da er ohnehin alles tötet, was er (mit seinem Schwanz) ergreift. Nicht einmal der Elefant mit seinem mächtigen Körper ist vor ihm sicher; denn sich bei den Wasserstellen versteckend, welche die Elefanten gewöhnlich aufsuchen, verknotet er dessen Beine und tötet sie durch Ersticken. In Äthiopien und in Indien wird er geboren […].



Draco maior cunctorum serpentium, sive omnium animantium super terram. […] Qui saepe ab speluncis abstractus fertur in aerem, concitaturque propter eum aer. Est autem cristatus, ore parvo, et artis fistulis, per quas trahit spiritum et linguam exerat. Vim autem non in dentibus, sed in cauda habet, et verbere potius quam rictu nocet. Innoxius autem est a venenis, sed ideo huic ad mortem faciendam venena non esse necessaria, quia si quem ligarit occidit. A quo nec elephans tutus est sui corporis magnitudine; nam circa semiatas delitescens, per quas elephanti soliti gradiuntur, crura eorum nodis inligat, ac suffocatos perimit. Gignitur autem in Aethiopia et India […]. – Isidor, Etymologiarum sive originum. Libri XX, Band 2: Libros XI-XX, hrsg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, Nachdruck Oxford 1971, Buch 7, III, 4-5.



Insbesondere die beschriebenen Jagdmethoden legen die Vermutung nahe, dass die Eigenschaften real existierender Tiere wie Würgeschlangen und Krokodile Eingang in die Konzeption des Drachen gefunden haben.



Es ist für die antike und dann mittelalterliche Vorstellungswelt nicht unüblich, dass Edelsteine und Tiere eine Art Symbiose eingehen. So zählt auch der Drache zu den Kreaturen, die über einen eigenen Stein verfügen, der in diesem Fall im Gehirn des Tieres heranwächst. Der Drachenstein ist ein Motiv, das durch das gesamte Mittelalter hindurch tradiert wird:



Der Drachenstein wird dem Gehirn des Drachen entnommen. Wenn dieser nicht lebendig herausgeschnitten wird, so leuchtet er nicht; aus diesem Grund entnehmen erfahrene Männer den Stein aus schlafenden Drachen. So erkunden tapfere Männer die Höhlen der Drachen, streuen dort medizinische Kräuter, um die Drachen einzuschläfern, spalten die Köpfe im Schlaf und extrahieren die Edelsteine. Diese sind von transparenter Leuchtkraft. Gebräuchlicher Weise werden sie besonders von den Königen des Morgenlandes zur Schau gestellt.



Dracontites ex cerebro draconis eruitur. Quae nisi viventi abscisa fuerit, non ingemmescit; unde et eam magi dormientibus draconibus amputant. Audaces enim viri explorant draconum specus, spargunt ibi gramina medicata ad incitandum draconum soporem, atque ita somno sopitis capita desecant et gemmas detrahunt. Sunt autem candore translucido. Usu erarum orientis reges praecipue gloriantur. – Isidor, Etymologiarum, Buch 16, XIV, 7.



Das Mittelalter übernahm diese antiken und frühmittelalterlichen Vorstellungen, erweiterte sie und kombinierte sie mit anderen Quellen, von denen die Heilige Schrift mit die bedeutendste war. In ihr stand die Schlange am Beginn der Menschheitsgeschichte – und an ihrem Ende.



Drachen und Schlangen in der Bibel

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, Licht und Dunkelheit, Land und Wasser, die Tiere und die Menschen und mit dem Garten Eden einen paradiesischen Ort, an dem die Menschheitsgeschichte ihren Anfang nimmt. Doch schon bald korrumpiert ein Geschöpf das göttliche Idyll. Die wahrscheinlich berüchtigtste Schlange der Geschichte versucht vom Teufel angestachelt Eva und Adam, Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen:



1 Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der HERR, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? 2 Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; 3 nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben. 4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. 5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. 6 Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und begehrenswert war, um klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. 7 Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.



1 sed et serpens erat callidior cunctis animantibus terrae quae fecerat Dominus Deus qui dixit ad mulierem cur praecepit vobis Deus ut non comederetis de omni ligno paradisi 2 cui respondit mulier de fructu lignorum quae sunt in paradiso vescemur 3 de fructu vero ligni quod est in medio paradisi praecepit nobis Deus ne comederemus et ne tangeremus illud ne forte moriamur 4 dixit autem serpens ad mulierem nequaquam morte moriemini 5 scit enim Deus quod in quocumque die comederitis ex eo aperientur oculi vestri et eritis sicut dii scientes bonum et malum 6 vidit igitur mulier quod bonum esset lignum ad vescendum et pulchrum oculis aspectuque delectabile et tulit de fructu illius et comedit deditque viro suo qui comedit 7 et aperti sunt oculi amborum cumque cognovissent esse se nudos consuerunt folia ficus et fecerunt sibi perizomata – Genesis 3, 1-7.



Der Ausgang der Geschichte ist gemeinhin bekannt. Das erste Menschenpaar wird aufgrund ihres Übertritts des göttlichen Gebotes aus dem Paradies verbannt. Der Plan der Schlange ist damit aufgegangen:



8 Als sie an den Schritten hörten, dass sich Gott, der HERR, beim Tagwind im Garten erging, versteckten sich der Mensch und seine Frau vor Gott, dem HERRN, inmitten der Bäume des Gartens. 9 Aber Gott, der HERR, rief nach dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? 10 Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. 11 Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen? 12 Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen. 13 Gott, der HERR, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen.



8 et cum audissent vocem Domini Dei deambulantis in paradiso ad auram post meridiem abscondit se Adam et uxor eius a facie Domini Dei in medio ligni paradisi 9 vocavitque Dominus Deus Adam et dixit ei ubi es 10 qui ait vocem tuam audivi in paradiso et timui eo quod nudus essem et abscondi me 11 cui dixit quis enim indicavit tibi quod nudus esses nisi quod ex ligno de quo tibi praeceperam ne comederes comedisti 12 dixitque Adam mulier quam dedisti sociam mihi dedit mihi de ligno et comedi 13 et dixit Dominus Deus ad mulierem quare hoc fecisti quae respondit serpens decepit me et comedi – Genesis 3, 8-13.



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Der Sündenfall des ersten Menschenpaares ist durch alle Epochen hindurch in ganz unterschiedlicher Detailausarbeitung immer wieder Gegenstand von Kunst und Literatur geworden. Ende des 15. Jahrhunderts schuf der flämische Maler Hugo van der Goes seine Vision des Ereignisses mit einer bemerkenswerten Art von Schlange, die uns im Folgenden noch beschäftigen wird.



Mit Recht könnte man hier einwenden, wieso die Genesisgeschichte im Rahmen dieses Themas erwähnt wird, spricht die Vulgata doch explizit von einem serpens, einer Schlange, die Eva verführt. Wir haben aber bereits gesehen, dass die Bezeichnungen (draco, serpens) und das Bezeichnete (Geschöpfe, die wie riesige Schlangen aussehen) durchaus synonym und aufeinander zulaufen können, und es sind gerade die hoch- und spätmittelalterlichen Enzyklopädien, welche die Schlange des Alten Testaments mit einer ganz besonderen Art von Drachen identifizieren (dazu gleich mehr).



Weitere Stellen des Alten Testaments werden für die mittelalterlichen Vorstellungen vom Drachen durch die Bibelübersetzung des Hieronymus († 420) bedeutend, der in vielen Passagen das hebräische Wort tanin mit dem lateinischen draco übersetzt. So werden neben Erwähnungen in den Psalmen im Buch Jesaja etwa Drachen als Zeichen des Verfalls in den Ruinen Babylons verortet; noch die Enzyklopädiker des Hochmittelalters übernehmen dieser Vorstellung in ihre Abhandlungen (s. u). Der Prophet Daniel tötet einen Drachen, der dem heidnischen Gott Bel geweiht ist, und beweist auf diese Art die Überlegenheit des einen Gottes.



Das Motiv der Drachenüberwindung als Demonstration der Überlegenheit des eigenen Glaubens findet sich in der Folge in zahlreichen christlichen Heiligenviten (s. u). Vollends zu Ende geführt werden diese Überlegungen, welche den Drachen in die Nähe des Teufels und des Dämonischen rücken, in der Bibelexegese (das sind Erläuterungen und Auslegungen der Heiligen Schrift). So führt etwa der Kirchenvater Augustinus in seinem Genesis-Kommentar ›De Genesi ad litteram‹ aus, dass alle schlangenartigen Kreaturen, wie die Paradiesschlange oder der Drache, eine natürliche Prädestination dafür haben, als Werkzeug Satans oder dessen Manifestation zu dienen.



So ordnete beispielsweise der italienische Dominikaner Johannes von San Gimignano in seiner ›Summa de Exemplis et Rerum similitudinibus locupletissima‹ den Drachen auf den Teufel hin.



Der Drache stößt einen giftigen Atem aus und infiziert damit die Luft und gebiert auf diese Weise eine tödliche Seuche. So hat auch der Teufel ein schlechtes Zischen in böser Einflüsterung, das eindringend das Herz infiziert und es in der Vergnügungssucht einkleidet in die tödliche Krankheit der Sünde.



Nam Draco […] flatum contagiosum emittit et aerem inficit, et sic morbum pestilentem gignit. Sic diabolus habet malum sibilum in malum suggestionem, quod immittendo cor inficit, et morbum pestilentem peccati per delectationem induit. – Johannes de Sancto Geminiano, Summa de Exemplis et Rerum similitudinibus locupletissima, Druck Venedig 1576, Buch V, Kap. 39, f. 190v.



Auswirkungen hat dies auf zahlreiche Textgattungen des Mittelalters, wie etwa der Bibeldichtung (Nacherzählung biblischen Geschehens auch in der Volkssprache), in der bereits durch die Bezeichnung die Grenze zwischen Schlange und Drachen verschwimmt. In der ›Millstätter Genesis‹ etwa, die irgendwann um das Jahr 1200 entstanden ist, wird auch explizit die Besessenheit der Schlange durch den Teufel auserzählt:



Der bösartige Geist des Teufels fuhr in die Natter – dort versteckte er sich. […] Der schreckliche Drache schwor mit Nachdruck, dass sie (Adam und Eva) nicht sterben würden, wenn sie sich am Obst (des Baumes der Erkenntnis) sättigen würden.



Des tievels ubil âtem / fuor in die nâteren – / dar inne was er verholne. […] Der wurm ungehiure / swuor vil tiure, /daz si niht ersturben, / swie sat sie von dem obiz wurden. – Die Millstätter Genesis. Edition und Studien zur Überlieferung. Teil 1: Einführung und Text, hrsg. von Frank Schäfer, Göttingen 2019, zugl. Diss. Münster 2011, V. 630-633, S. 135 + V. 672-675, S. 137.



Doch zurück zur Heiligen Schrift: Am Ende allen irdischen Seins kommt es, bevor der Weltenrichter die Gerechten von den Ungerechten scheidet, in der Apokalypse zum Kampf zwischen den Mächten des Himmels und denen des Teufels, der in Gestalt eines roten siebenköpfigen Drachen gegen die Engel ficht:



3 et visum est aliud signum in caelo et ecce draco magnus rufus habens capita septem et cornua decem et in capitibus suis septem diademata 4 et cauda eius trahebat tertiam partem stellarum caeli et misit eas in terram […] 7 et factum est proelium in caelo Michahel et angeli eius proeliabantur cum dracone et draco pugnabat et angeli eius 8 et non valuerunt neque locus inventus est eorum amplius in caelo 9 et proiectus est draco ille magnus serpens antiquus qui vocatur Diabolus et Satanas qui seducit universum orbem proiectus est in terram et angeli eius cum illo missi sunt […]



3 Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen; 4 und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. […] 7 Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, 8 und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. 9 Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen. – Offenbarung des Johannes, 12, 3-9.



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Der Drache als Antagonist am Ende aller Geschichtlichkeit: Vom Erzengel Michael und den himmlischen Heerscharen besiegt und auf die Erde geworfen, treibt die Kreatur dort bis zum Erscheinen des Weltenrichters weiter ihr Unwesen.



Anschaulicher kann man die Nähe des Drachen zum Bösen, als dessen Personifikation er in der Apokalypse auftritt, nicht ins Bild fassen. Für das Mittelalter ist der Drache fortan im hohen Maße an die Figur Satans geknüpft, und auch wenn etwa die höfische Literatur den Drachen vornehmlich als zwar außergewöhnliche, aber natürliche Kreatur inszeniert, schwingt dieses allegorische Bedeutungspotenzial zumindest immer ein wenig mit. Besonders virulent wird es bei einer Gruppe von Männern und Frauen, die sich im Speziellen mit dem Bösen und seinen Auswüchsen auseinandersetzen müssen: den Heiligen.



Heilige Drachenbezwinger

So wie sich Ritter mit Drachen messen, um ihre Tapferkeit und Waffenfinesse unter Beweis zu stellen, so können auch Heilige ihre Tugenden, ihre virtutes demonstrieren, indem sie Drachen bändigen oder vernichten. Der katholische Glaube kennt bis heute eine große Vielzahl an Drachenheiligen, die – wie etwa die heilige Margareta von Antiochia (Märtyrerin, † um 305) – das Untier als Heiligensymbol bei sich führen.



Die Begegnung mit dem Drachen stellt für die Heiligen nicht nur eine enorme Prüfung dar, weil es sich bei ihnen um gefährliche Kreaturen handelt, sondern weil sie auch das inkarnierte Böse darstellen. So wird die Überwindung des Drachen auch gleichzeitig zur Überwindung Satans und seiner Versuchungen – womit der Heilige vor Gott und der Welt die Festigkeit und den Wert seines christlichen Glaubens unter Beweis stellt. Es ist hier nicht der Platz, um auch nur annähernd alle Heiligen vorzustellen, die als denkwürdige Tat auf dem Weg zu ihrer Heiligsprechung einen Drachen überwunden haben. Stellvertretend beschäftigen wir uns aber mit einem Heiligen, dessen Gedenktag in weiten Teilen der Welt jedes Jahr bewusst oder unbewusst begangen wird: mit dem frühchristlichen Heiligen Papst Silvester I. († 335).



Die wundersamen Taten des Silvester werden unter anderem durch die ›Legenda aurea‹ (dt. ›Goldene Legende‹) des Dominikaners und Erzbischofs Jacobus de Voragine († 1298) überliefert. Nachdem Silvester den römischen Kaiser Konstantin den Großen zum Christentum bekehrt hat, sucht – so die Legende – ein gifthauchender Drache die Bevölkerung Roms heim. Zwei heidnische Priester konfrontieren den Herrscher mit der Gefahr. Konstantin bittet Silvester um Rat:



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Der womöglich bekannteste heilige Drachentöter ist der hl. Georg, dessen Kampf gegen die Kreatur unzählige Mal ins Bild gefasst worden ist, wie hier durch den Frührenaissancemaler Vittore Carpaccio in Venedig (1502-1507). Charakteristisch für die Darstellung ist das Durchstechen von Kopf, Maul oder Hals des Drachen mittels Lanze oder Speer. Der hl. Georg, der während der Christenverfolgung des Diokletian zu Beginn des 4. Jahrhunderts das Martyrium erlitt, zählt zu den sog. vierzehn Nothelfern. Die Erzählung von dem Drachen, dem eine Königstochter geopfert werden soll, die aber rechtzeitig von Georg gerettet wird, findet sich wie die Silvesterlegende in der ›Legenda Aurea‹ des Jacobus de Voragine.



Einige Tage später kamen die Götzenpriester zum Kaiser und sprachen: „Allerheiligster Kaiser, der Drache, der in der Höhle lauert, seitdem du den Glauben an Christus angenommen hast, tötet mit seinem Gifthauch täglich mehr als dreihundert Menschen.“ Konstantin fragte in dieser Sache Silvester um Rat, der folgendes empfahl: „Ich werde ihn mit der Kraft Christi dazu bringen, von allen seinen Untaten abzulassen.“ Daraufhin versprachen die Priester, dass sie an Christus glauben würden, wenn er dies tue. Silvester betete, und der Heilige Geist erschien ihm mit den Worten: „Steige ohne Sorgen zu dem Drachen in die Höhle und nimm dir zwei Priester mit. Wenn du bei ihm angekommen bist, dann rede ihn folgendermaßen an: ‚Jesus Christus, unser Herr, geboren von einer Jungfrau, gekreuzigt und begraben, auferstanden und sitzend zur Rechten des Vaters wird kommen, um die Lebenden und die Toten zu richten. Du, Satan, warte in dieser Grube auf ihn, bis er kommt.‘ Dann wirst du ihm das Maul mit einem Faden zubinden und mit einem Ring, der das Zeichen des Kreuzes trägt, ein Siegel aufdrücken. Dann werdet ihr gesund und wohlbehalten zu mir kommen und das Brot, das ich euch bereitet habe, essen.“



Post aliquos vero dies idolorum pontifices ad imperatorem venerunt dicentes: „Sacrattisime imperator, ille draco, qui est in fovea, postquam fidem Christi recepisti, plus quam trecentos homines quotidie interficit flatu suo“. Consulente super hoc Constantino Silvestrum respondit: „Ego per Christi virtutem eum ab omni cessare laesione faciam“. Promittunt pontifices se, si hoc faciat, credituros. Orante autem Silvestro Sanctus Spiritus ei apparuit dicens: „Securus ad draconem descende tu et duo presbyteri, qui sunt tecum, cumque ad eum veneris, eum taliter alloquaris: ‚Dominus noster Iesu Christus de virgine natus, crucifixus et sepultus, qui resurrexit et sedet ad dextram patris, hic venturus est iudicare vivos et mortuos. Tu ergo Satana, eum in hac fovea, dum venerit, exspecta.‘ Os autem eius ligabis filo et anulo crucis habente signum desuper sigillabis. Postea ad me sani et incolumes venietis et panem, quem vobis paravero, comedetis.“ – Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Lateinisch / Deutsch, ausgewählt, übersetzt und hrsg. von Rainer Nickel, Stuttgart 2007 (= Reclams Universal-Bibliothek 8464), S. 92-93.



Ausgestattet mit dem guten Rat des Heiligen Geistes und in Begleitung zweier Priester steigt Silvester in die Höhle des Drachen ab, der mit seinem Giftatem die Bevölkerung dezimiert:



Silvester stieg daraufhin mit zwei Priestern in die Grube, hundertfünfzig Stufen tief, und er hatte zwei Laternen bei sich. Dann sagte er dem Drachen die Worte, die ihm aufgetragen waren, und wie es ihm befohlen war, band er dem Drachen das Maul zu. Dann stieg er wieder nach oben und fand dort zwei Zauberer, die ihm gefolgt waren, um zu sehen, ob er und die beiden Priester tatsächlich zu dem Drachen hinabstiegen. Jetzt lagen sie vom Gestank des Drachen halbtot auf der Treppe. Auch sie nahm er unversehrt und gesund mit nach oben. Sie wurden zusammen mit unzählig vielen anderen sofort zum Glauben bekehrt, und so wurde das römische Volk vor einem zweifachen Tod bewahrt: vor der Verehrung des Teufels und dem Gift des Drachen.



Descendit itaque Silvester cum duobus presbyteris in foveam per gradus CL duas secum ferens laternas. Tunc draconi praedicta verbi dixit et os ipsius stridentis et sibilantis, ut iussus fuerat, alligavit et ascendens invenit duos magos, qui eos secuti fuerant, ut viderent, si usque ad draconem descenderent, ex draconis foetore paene mortuos. Etiam eos secum adduxit incolumes atque sanos, qui statim cum multitudine infinita conversi sunt sicque Romanorum populus a duplici | morte liberatus, scilicet a cultura daemonis et veneno draconis. – Jacobus de Voragine, Legenda aurea, S. 92-95.



Silvesters Tat rettet nicht nur die Leben der Menschen, sondern auch deren Seelenheil. Mit der Unterstützung des Heiligen Geistes werden das Untier und Satan, der durch dieses wirkt, überwunden – Silvester hat den Römern die Macht des christlichen Gottes augenfällig gemacht, die in Scharen den heidnischen Göttern den Rücken kehren und sich taufen lassen. Was mit dem gebannten Drachen passiert? – Das sagt die Erzählung nicht. Aber den Drachen zu töten, hat Silvester nicht nötig.



Drachen im gelehrten Schrifttum des Hoch- und Spätmittelalters

Über alle Jahrhundert hinweg gibt es Gelehrte, die versuchen, das naturkundliche, religiöse, historische und moralische Wissen ihrer Zeit zu sammeln, zu bündeln und in verständlicher Form zu präsentieren. Insbesondere das 13. Jahrhundert stellt eine Zeit dar, in welcher in West- und Mitteleuropa vornehmlich von Ordensangehörigen bedeutende enzyklopädische Texte verfasst werden, die in einem ganzheitlichen Ansatz versuchen, das komplette Wissen der Welt in konziser Form zu versammeln und für ein interessiertes Publikum aufzubereiten.⁶



Planeten und Winde, Edelsteine und Pflanzen, Tiere, Engel und Dämonen und noch vieles mehr werden Bestandteil tausendseitiger Kompendien. Sie alle werden nach bestimmten Gesichtspunkten sortiert und arrangiert, ihre Eigenschaften und Eigenarten auf Grundlage antiker, biblischer und anderer mittelalterliche Texte sowie mitunter eigener empirischer Beobachtungen ausgebreitet, kommentiert und allegorisch gedeutet.



Am Ende stehen einzelne Bücher, die das Wissen ganzer Bibliotheken in sich vereinen und erfahrbar machen. Sie werden hundertfach abgeschrieben und über Jahrzehnte und Jahrhunderte tradiert, ihre Inhalte in anderen literarischen Gattungen wie der Predigt oder dem höfischen Roman in neue Erscheinungsformen gegossen. In allen wird dem Drachen als bedeutendstem Vertreter der Gattung der Schlangen ein prominenter Platz eingeräumt, einerseits als natürliche Geschöpfe und andererseits als Beweis für das teuflische Wirken auf Erden.⁷



Drachen im ›Liber de Natura Rerum‹ des Thomas von Cantimpré

Eine der bedeutendsten Enzyklopädien des Hochmittelalters schrieb der Dominikaner Thomas von Cantimpré († 1270 oder 1272) mit seinem ›Liber de Natura Rerum‹ (›Das Buch von den natürlichen Dingen‹). Das Werk liegt bis heute in verschiedenen Fassungen vor, und insbesondere die sog. Thomas III-Fassung, die nicht von Thomas selbst stammt, wurde im süddeutschen und österreichischen Raum stark verbreitet und rezipiert. Thomas und die Autoren, die sein Werk adaptierten, verarbeiteten frühere, auch antike Autoren und gliederten die Enzyklopädie in verschiedene Themenbereiche (Tiere, Pflanzen, Edelsteine usw.), die sie jeweils wieder in Teilbereiche arrangierten und alphabetisch sortierten.



Auch im ›Liber de Natura Rerum‹, den wir uns stellvertretend für eine große Literaturgattung anschauen, nimmt der Drache einen prominenten Platz unter den Schlangen ein. Insbesondere zu den Eigenschaften und dem Lebensraum der Kreatur äußert sich Thomas:



Über den Drachen. Der Drache gehört, wie Jacobus und Augustinus sagen, zu den größten Tieren des Landes. […] Während des Laufens hängt seine Zunge aus dem geöffneten Maul heraus, aber die größte Gefahr geht nicht von seinen Zähnen aus. Trotzdem ist selbst der kleinste Biss unangenehm, denn er ist, wie der Experimentator sagt, giftig. Wen auch immer der Schwanz ergreift, tötet er. Nicht einmal der Elefant ist aufgrund der Größe seines Körpers sicher. […] Er wird nur selten außerhalb der warmen Gebiete der Erde gefunden. Wie geschrieben steht, leben die größten Drachen in der Nähe des Turms von Babel und im Turm selbst und im verlassenen antiken Babylon und seinen Ruinen, deren brüllende Stimme die Menschen in Schrecken versetzt.



De dracone. Draco maximus inter omnia terre animalia, ut dicunt Iacobus et Augustinus. […] Ad meatum linguam exerit, dehiscit ore, sed dentibus non nocet. Morsus tamen eius pessimus et si parvus, sicut dicit Experimentator, quoniam comedit venenifera. Cauda vero si quem ligaverit, occidit; a qua nec elephas tutus est corporis sui magnitudine. Raro enim inveniuntur nisi in partibus orbis calidioribus. Circa turrim Babel et in ipsa turri Babel et in deserta illius antique Babylonis et ruinis eius habitare dicuntur maximi dracones, quorum vox atque rugitus homines terret. – Thomas Cantimpratensis, Liber de Natura Rerum. Editio Princeps Secundum Codices Manuscriptos, hrsg. von Helmut Boese, Berlin 1973, S. 281.



Dass man einen Drachen am besten mit Schwert und Lanze den Garaus machen kann, ist uns aus zahlreichen Rittergeschichten bekannt (wir werden gleich noch zahlreiche mittelalterliche Varianten kennenlernen). Thomas von Cantimpré nennt zum Ende seiner Ausführungen aber noch eine ausgeklügeltere Methode, die Kreatur zu töten: So solle man ein ausgeweidetes Kalb mit Kalksteinen füllen. Der Drache, arglos den Kadaver verspeisend, leidet fortan aufgrund der Kalkfüllung unter einem unstillbaren Durst, der den Drachen aufgrund seiner hitzigen Natur schließlich zu Grunde richtet.



Drachen in ›De Proprietatibus Rerum‹ des Bartholomäus Anglicus

Auch ein Zeitgenosse des Thomas, der Franziskaner Bartholomäus Anglicus, behandelt in seiner um die Mitte des 13. Jahrhunderts fertiggestellten Enzyklopädie ›De Proprietatibus Rerum‹ (›Über die Ordnung der Dinge‹) in großer Übereinstimmung mit der literarischen Tradition den Drachen. Er berichtet von dessen enormer Größe und ebenfalls von der Feindschaft zwischen Drachen und Elefant:



In Äthiopien wird ein Drache mit der Größe von zwanzig Ellen geboren. Sie pflegen, sich zu viert oder fünft, zehnt oder fünfzehnt ineinander zu winden, und mit erhobenen Köpfen über das Meer und Flüsse zu segeln, um geeignetes Futter zu finden. Zwischen Elefanten und Drachen herrscht immerwährende Feindschaft. […] Der Grund ist, dass der Drache das Blut des Elefanten begehrt, das kalt ist, mit dessen Hilfe der Drache begehrt, sich abzukühlen, wie Isidor berichtet.



Draco 20 cubitorum magnitudine nascitur apud Aethiopes. Solent autem quatuor vel quinque, 10 vel 15 mutuo se complecti, et erectis capitibus velificare per mare et flumina ad pabula meliora. Inter elephantes et dracones perpetua est dimicatio. […] Causa quare ita appetit eius sanguinem, est frigiditas sanguinis elephantis, quo draco appetit infrigidari, ut dicit Isidor. – Bartholomaeus Anglicus, De rerum propietatibus, Frankfurt a. M. 1601, Nachdruck Frankfurt a. M. 1964, S. 1054.



Nach Bartholomäus ist der Drache ein hoch gefährliches Raubtier, dessen konzentriertes Gift, das unablässig von seiner Zunge tropft, die Luft entflammt und das mit scharfem Blick seine Beute selbst aus großer Entfernung zielsicher erspähen kann:



Wie Plinius sagt, tropft die Macht des Giftes dauernd von seiner Zunge, und durch die Hitze des Giftes setzt er die Luft in Brand, so dass es aussehe, als würde er zu jeder Zeit Feuer ausatmen, während ansteckender Atem ausgezischt wird, und auf diese Weise die Luft korrumpiert und infiziert wird und immer wieder ein tödliches Siechtum produziert wird. Der Drache lebt manchmal im Meer, manchmal schwimmt er in Flüssen, er versteckt sich in Höhlen und Löchern, schläft selten, bleibt im Gegenzug die meiste Zeit wach, verschlingt Vögel und Landtiere. Er hat ein scharfes Sehvermögen, womit er auf den höchsten Bergen lauernd von Weitem seine Beute erspäht; er kämpft beißend und schlagend, und zielt im Kampf vornehmlich auf die Augen und Nasen der Tiere, wie Plinius berichtet.



Dicit etiam Plinius, quod vi veneni semper erigitur eius lingua, et quandoque ex calore veneni inflamat aerem, ita quod videtur spirare ex se ignem, aliquando etiam emittit, dum sibilat flatum contagiosum, et inde corrumpitur aer et inficitur, et morbus pestilens inde saepius generatur. In mari quandoque habitat, quandoque in fluminibus natat, in speluncis et antris latitat, raro dormit, imo vero semper vigilat, aves et bestias devorat, acutissimum habet visum, unde in altissimis montibus manens, a remotis videt praedam suam, morsu et ictu pugnat, de oculis et naribus animalis in pugna maxime captat, unde dicit Plinius. – Bartholomaeus Anglicus, De rerum propietatibus, S. 1055.



Drachen im ›Buch der Natur‹ des Konrad von Megenberg

In der Mitte des 14. Jahrhunderts entsteht die erste Enzyklopädie in deutscher Sprache, das ›Buch von den natürlichen Dingen‹, verfasst vom Regensburger Domherr Konrad von Megenberg († 1374). In weiten Teilen stellt das Werk eine Übertragung des ›Liber de Natura Rerum‹ des Thomas von Cantimpré dar, die Konrad jedoch im Detail modifiziert, ergänzt und mit eigenen Kommentaren versieht. Wie seine lateinischen Vorgänger räumt Konrad dem Drachen einen prominenten Platz ein und äußert sich eingangs zum Aussehen und der Konstitution des Wesens.



III.E.10 Von dem trachen (Über den Drachen)

Der Drache ist eines der größten Tiere der Welt, wie Jacobus und Augustinus sagen. Das Tier ist nicht giftig. Der Drache ist auf dem Kopf gekrönt gemäß der Größe seines Körpers, wie wenn er einen großen Kamm habe. Er hat einen engen Mund und kleine Halsadern. Immer wenn er sich bewegt, streckt er die Zunge aus dem Mund. Er brüllt und sperrt das Maul auf, aber die Zähne richten keinen großen Schaden an. Allerdings ist sein Biss sehr schädlich; wie das sein kann, wo doch der Biss schwach ist, bespricht ein Wissenschaftler: Denn der allergrößte Schaden kommt nicht von den Zähnen, sondern davon, dass er vergiftete Dinge isst.



Draco ist der groesten tier ains, daz di werlt hat, sam Jacobus und Augustinzs sprechent. Daz tier hat niht vergift. Er ist gechroent auf dem haupt nach der groezzen seins leibes, reht als er ainen grozzen champ hab. Er hat ainen engen munt und hat chlain hals adern. Wenn er get, so rekt er sein zungen fuer den munt. Er greint und ginet mit dem maul, aber er schat mit den zenden niht vil. Jdoch ist sein pizz gar schad, wie daz sey, daz der pizz clain sey, sam ein vorscher spricht. Aber der gar grozz schad chuemt niht von den zenden: er chuemt da von, daz er vergiftes dinch ist. – Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, hrsg. von Robert Luff / Georg Steer, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, Tübingen 2003 (= Texte und Textgeschichte 54), S. 295-296.



Auch Konrad weiß, dass die Hauptwaffe des Drachen sein Schwanz ist, von dem eine tödliche Gefahr ausgeht. Aufgrund seiner Konstitution und hitzigen Natur sucht der Drache am liebsten Höhlen auf, während allein sein grausames Antlitz in der Lage ist, Menschen zu verstören oder zu Tode zu erschrecken.



Wen der Drache mit seinem Schwanz festhält, den tötet er, denn nicht einmal der große Elefant ist vor diesem sicher. Für gewöhnlich wohnt der Drache in hohlen Bergen, insbesondere dort, wo Steinrutsche sind. Dort wohnt er aufgrund der Hitze seines Körpers und seiner Natur, und zumeist sucht er diese Stätten auf, wenn er geflogen ist oder um sich vor der großen Hitze zu schützen, die zur Sommerzeit von der Sonne ausgeht, denn die Hitze ist sehr groß in den Ländern, die in Richtung des Sonnenaufgangs liegen, in denen der Drache wohnt. Seine Stimme und sein Gebrüll erschrecken die Menschen. Sein Gesicht ist für die Menschen so schrecklich, dass sie dessen Anblick nicht ertragen können, ohne davon zu sterben.



Wen der trach mit seim zagel pint, den toet er, wan vor dem mag der grozz helfant niht sicher gesein. Er wont daz merertail in holen pergen und allermaist, da stain ruetschen sein. Daz tuot er umb die uebrigen hitz seines leibes und seinr natur und allermaist suocht er die stet, wenn er geflogen hat und auch etzwen durch der grozzen hitz willen, die von der sunnen chuemt sumer zeiten, wan dev hitz ist gar grozz in den landen gegen der sunnen aufganch, da der trach wonet. Sein stimm und sein geschray erschreket die laeut. Sein gesiht ist so graussam den laeuten, daz sie ez niht erleiden muegent und daz sie etwenn da von sterbent.



Die Flügel des Drachen, so Konrad weiter, sind riesengroß und würden denen einer Fledermaus ähneln. Dieses Detail hat die Zeit, wie wir bereits gesehen haben, bis in die Drachenbeschreibungen von J.R.R. Tolkien und Michael Ende überdauert. Und auch der todbringende Pestatem der Kreatur wird von Konrad erwähnt.



Seine Flügel haben Häute, die wie eine große Haut aufgespannt sind wie die von Fledermäusen, die im Hautwechsel sind; doch sind die Flügel des Drachen riesig und fast so groß wie ihr Körper. Wo auch immer der Drache lebt, verpestet er die Luft mit seinem Atem, der aus seinem Hals kommt. Sein Anhauchen oder Anblasen sind tödlich. Mit ihnen verbreitet er tödliches Siechtum.



Sein fluegel sint haeutein, reht als ein grozzew haut aufgespannen sey in der weis, sam diu fledermaus fluegel hat in irr mauzze, aber dez trachen fluegel sint gar grozz nah der groezz seins leibes. Wa er wont, da verunraint er den luft mit seim autem, der im auz dem hals get. Er hat ein todpringendes anhuchen oder anplasen auz seinem hals. Da mit pringt er toetleich siechtuem.



Daneben gibt es unterschiedliche Arten von Drachen, die in verschiedenen Seltenheitsgraden vorkommen und sich etwa in der Weise, wie sie sich fortbewegen, unterscheiden. Zudem nennt Konrad in seinen Ausführungen auch den Drachenstein, den wir bereits kennengelernt haben und den der Megenberger in seinem Buch über die Edelsteine noch einmal dezidiert beschreibt (s. u.):



Es gibt auch eine andere Art Drache, der keine Füße besitzt, sondern nur mit der Brust über die Erde schlängelt, und es gibt noch andere Drachen, die wiederum Füße haben, die aber selten sind. Adelinus schreibt, dass man aus dem Gehirn des Drachen einen Edelstein schneiden kann, der Dracontia oder Dracontides heißt, was im Deutschen Drachenstein bedeutet. […] Doch hat der Drache keinen Adel, wenn man ihn nicht aus dem Hirn eines lebendigen Drachen zieht. Denn man schlägt sie mit einem hinterhältigen oder eines Fürsten nicht würdigen Hieb, wenn sie zur Sommerzeit in der Sonne ruhen. Dann schlägt man ihnen durch den Kopf und zieht den Edelstein heraus, wenn sie noch kräftig zappeln.



Ez ist auch ainrlay trachen, der hat niht fuezz und slingt neur auf der pruest an der erden, und ainr anderlay trachen haben fuezz, aber die sint seltzen. || Adelinus spricht, daz man auz seim hirn ein stain sneyd, der haizt dracontia oder dracontides und haizzet ze daeutsch drachenstain […]. Aber der stain hat chain adel, man zieh in dann aus dez lebendigen drachen hirn, wan man sleht si mit aim slag ungewarnt oder unfuersihticleich, wenn sie sumer zeiten an der sunnen ruoend, und sleht si durch daz haupt und zeuht den stain her auz, wenn si dan noch chrefticleich zabelnt.



Und obgleich der Drache eine furchterregende Kreatur ist, so gibt es Methoden, ihn zu verjagen. Die theoretische Möglichkeit, einen Drachen zu reiten, gehe, so Konrad, oft für Reiter wie Kreatur schlecht aus.



Der Drache wächst zwanzig „Daumeln“ (das Maß zwischen ausgestrecktem Daumen und Ellbogen) oder mehr und wird so riesig, dass er jemanden, der auf ihm aufsitzt, davonträgt. Aber sobald der Drache ermüdet, so stürzt er mit seiner Last ins Meer. Wenn man den Drachen verjagen oder ängstigen möchte, dann nimmt man eine aufgeblasene Schüssel und schlägt darauf mit einem korallenen Stab: Diesen Ton und das Klappern fürchtet der Drache und flieht oder wird gehorsam.



Der trach wehset zwaintzig daumeln lang oder mer und wirt so groz, daz er sein auf sitzer gar verr fuert auf im selber, aber so er mued wirt, so senket er sich und die puerd in daz mer. Wenn man in veriagen wil oder vorhtig machen, so nimt man ein aufgeplasen platern und sleht dar auf mit choralleinn gaertleinn: Den don oder daz claeppern fuerht er und entweicht und wirt gehorsam. – Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, S. 295-297.



Wie bereits seine lateinische Vorlage, das ›Buch der natürlichen Dinge‹ von Thomas von Cantimpré, führt Konrad nach der Abhandlung über den Drachen eine zweite ganz besondere Spezies auf, den Drachenkopf.



Der Überlieferungstradition gemäß sei diese Art von Drachen für den Bruch des göttlichen Gebots durch Adam und Eva im Paradies verantwortlich gewesen (wir haben auf die biblische Tradition bereits hingewiesen). Bereits das Aussehen der Schlange sei, so Konrad, darauf ausgerichtet, die Menschen hinters Licht zu führen:



III.E. 11 Von dem drachencoppen (Von dem Drachenkopf)

Draconcopes bedeutet Drachenkopf. Das ist eine große und mächtige Schlange, die in Griechenland lebt, wie Adelinus schreibt. Die Schlange hat das Antlitz einer Jungfrau, ganz genauso wie bei einem Menschen, während aber der Rest der Erscheinung einem Drachen gleicht. Nun behaupten die Meister, dass es diese Schlange gewesen sei, die Eva im Paradies betrogen hat. Denn Beda (Venerabilis) spricht, dass dieselbe Schlange das Gesicht einer Jungfrau habe, um in gleicher Gestalt Eva gefügig zu machen und sie anzulocken. Denn der Mensch und ein jedes Tier geht mit Seinesgleichen vertraut um.



Draconcopes haizt ein drachencopp und ist ein slang in Chriechen land gar grozz und maehtig, sam Adelinus spricht. Deu slang hat ainr iunkfrawen antluetz, geleich ainem menschen, aber daz ander tail irs leibes geleicht einem drachen. Nu sprechent die maister, daz die slang derlay sei gewesen, die Evam betrog in dem paradys, wan Beda spricht, daz diselb slang ain iunckfrawen antluetz hab gehabt dar umb, daz sie mit gleicher gestalt Evam zaemt und zuolocket, wan der mensch und ein iegleich tier nimt sein gleichs und ist lustig gegen im. – Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, S. 297-298



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Der Drachenkopf ist in mittelalterlichen Handschriften ebenfalls bildlich dargestellt worden, wie hier in einer Handschrift der um 1270 entstandenen niederländischen Enzyklopädie ›De naturen bloeme‹ des Jacob van Maerlant, bei der es sich um eine Übertragung von Thomas‘ von Cantimpré lateinischem ›Liber de Natura Rerum‹ in die Volkssprache handelt.



Dabei muss die Schlange darauf achten, Eva nur ihr menschliches Antlitz zu präsentieren und den drachenähnlichen Leib verborgen zu halten. Wie es denn sein konnte, dass ein Tier zu einem Menschen sprechen kann, darüber finden sich bei Konrad von Megenberg zwei Theorien, die beide etwas für sich haben:



Diese Schlange zeigte, als sie Eva verführte, nur ihren Kopf und verbarg den Rest des Körpers unter den Blättern und Büschen des Baumes. Wie es aber dem Teufel gelang, dass die Schlange menschliche Worte sprach, bleibt uns verborgen. Wir müssen daher davon ausgehen, dass sie wie ein Mensch Stimmbänder und anderes in Hals und Kopf gehabt haben muss, das sie befähigte, menschliche Worte zu äußern; genauso wie etliche Vögel menschliche Worte vorbringen können, wenn man nur mit ihnen übt. Jedoch glaube ich aus nachvollziehbaren Gründen, dass sich der Teufel selbst in eine Schlange verwandelt und selbst wie ein Mensch mit Eva gesprochen hat, denn er kann sich in jedes beliebige Tier verwandeln. […] Weh, ach und oh weh! Erbarme dich, Gott, weil die Welt zu meiner Zeit von so vielen Drachenköpfen bewohnt wird, die jedem Menschen freundlich das Blaue vom Himmel versprechen und am Ende doch falsch und vergiftend handeln.



Die selb slang, da si Evam betrog, zaigt ir neur daz haupt und verparg daz ander tail under der paum pletter und buschen. Wie aber teufel daz gemachen moeht, daz die slang menschleicheu wort spraech, daz ist uns verporgen, wir wellen dann sprechen, daz die selb slang hals adern und andern gezeug hab gehabt in dem hals und in dem haupt sam der mensch, da mit si geschikt waer zuo menschleichen worten, reht als wir sehen, daz etleich vogel menschleicheu wort fuer pringent, wen man si dez ersten da mit uebet. Jdoch waen ich und ist gelaeupleich, daz der teufel sich selber verchert in einer slangen weis und auch selb menschleich sprach mit Even rett, wan er mag sich verchern in aller tier form. […] We, ach und owe! Got vater, lazz dich erparmen, daz ze meinen zeiten die werlt so vol ist worden der drachencoppen, die jedem menschen guots under die augen erzaigent, und ist daz end irr handlung valsch und vergiftig. – Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, S. 298.



Interessanter Weise pflegt Konrad in die Abhandlung über den Drachenkopf auch einen gesellschaftskritischen, tagesaktuellen Kommentar ein – damit verbleibt der Drache nicht nur als literarisches Zeugnis zwischen Pergamentblättern.



Auch der Drachenstein, den wir bereits kennengelernt haben, findet beim Megenberger der Tradition verpflichtet seinen Platz unter den Edelsteinen.



VI.29 Von dem dracken stain (Über den Drachenstein)

Dracontides bedeutet Drachenstein. Diesen entnimmt man dem Hirn eines Drachen. Doch zieht man ihn nicht aus dem Hirn eines lebendigen Drachen, so ist der Stein nicht edel (und verfügt damit über keine Kräfte). Die kühnen Männer schleichen über die Drachen, während diese liegen, und schlagen ihnen das Gehirn in zwei Hälften. Und während die Drachen noch zappeln, ziehen die Männer ihnen die Edelsteine aus dem Gehirn. Man sagt, der Edelstein sei hilfreich gegen giftige Tiere und widerstehe im starken Maße einer Vergiftung. Die Edelsteine leuchten hell und sind durchsichtig. Die Könige, die in den Ländern gegen der Sonne Aufgang leben, besitzen sie gerne.



Dracontides haizzet drachen stain. Den nimpt man aus eins drachen hirn, und zeucht man in nicht aus eines lebendigen dracken hirn, so ist er nicht edel. Die chuenn man sleichent ueber di dracken, da si ligent, und slahent in das hirn enzway, und die weil si zabelnt, so ziehent si di stain her aus. Man spricht, der stain sey guot fuer di vergiftigen tier und wider ste der vergift chreftichleich. Die stain sint durch laeuchtent und durch sichtich, und habent si di chuonig gern in den landen gegen der sunnen aufganch. – Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, S. 480.



Zu sagen, mit Konrad von Megenberg sei das enzyklopädische Wissen in die deutsche Volkssprache gekommen, ist sicherlich falsch. Bereits andere vor ihm haben in anderen Textgattungen wie dem höfischen Roman, der Spruchdichtung oder didaktischen Werken rege die literarischen Steinbrüche, welche die lateinischen Enzyklopädien darstellen, nach Inhalten und Motiven abgeklopft. Aber dieses Wissen in derselben konzisen Form und mit demselben methodischen Anspruch wie seine lateinischen Vorgänger als erster ins Deutsche zu übertragen, war Konrads Verdienst.



Die Naturkunde des Mittelalters übernahm das antike Textmaterial und repetierte es über Jahrhunderte. Die drachenartigen Wesen, die in der Heiligen Schrift benannt worden waren, hatten die Kirchenväter jedoch veranlasst, dem Drachen diabolische Züge zuzuschreiben. Der Giftodem, den die antike Zoologie ihm zugedacht hatte, transformierte sich in die Gabe, Feuer zu speien, Relikte altorientalischer Traditionen verliehen dem Drachen fortan ein Paar Flügel. Ergebnis dieser Synthese war eine Kreatur, die auf der einen Seite dem Reich des Bösen angehörte und dem Teufel […] als Erscheinungsform dienen konnte und die auf der anderen Seite Teil der organischen Schöpfung blieb. – Roling, Drachen und Sirenen, S. 555.



Drachen auf der Ebstorfer Weltkarte

Alle Arten von bedeutenden Orten und Kreaturen fanden ihren Platz auch auf mittelalterlichen Weltkarten, den sog. mappae mundi (lat. mappa = Karte; mundus = Erde, Welt). Diese Karten unterscheiden sich in vielen Punkten von moderner Kartographie und bilden in erster Linie die Welt- und Schöpfungsordnung ab.⁸



Sie sind damit Abbild von Gottes Schaffen und bilden auch heilsgeschichtliche Ereignisse wie etwa die Vertreibung des ersten Menschenpaares aus dem Paradies ab. Dadurch erhalten die Karten auch eine zeitliche Dimension, insbesondere versinnbildlicht durch die Stadt Jerusalem, die als Schauplatz der Kreuzigung Christi und mit der Apokalypse des Endes jeder Geschichtlichkeit im Zentrum der Karten steht. Auf den drei bereits in der Antike bekannten Erdteilen Europa, Asien und Afrika tummeln sich auch zahlreiche heimische wie exotische Kreaturen, unter ihnen auch der Drache.⁹



Eine der bekanntesten mittelalterlichen Weltkarten ist die sog. Ebstorfer Weltkarte, deren Entstehung in der neueren Forschung auf den Zeitraum um das Jahr 1300 angesetzt wird. Mit einer Größe von mehr als 3 1/2 Metern Durchmesser muss die Karte wahrlich beeindruckend gewesen sein; das Original wurde 1943 leider bei einem Luftangriff auf Hannover vernichtet. Wer die treibende Kraft hinter der Entstehung der Karte war, ist heute wieder ungeklärt, nachdem neuerdings ältere Überlegungen zurückgewiesen wurden, der berühmte englische Gelehrte Gervasius von Tilbury, der uns gleich noch interessieren wird, sei für die Konzeption verantwortlich gewesen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird die Karte aber als Material im Elementarunterricht verwendet worden sein.



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Bildliche Darstellung eines geflügelten Drachen, eines Basilisken und einer Aspisviper auf der Ebstorfer Weltkarte.



Auf der Ebstorfer Weltkarte finden sich zu den etwa 60 dargestellten Kreaturen weiterführende Texte, die deren Eigenschaften, Verhalten und die regionale Herkunft näher erläutern. Inhaltlich eng verwandt sind diese Erklärungen mit jenen der naturkundlich-enzyklopädischen Schriften, die wir bereits kennengelernt haben:



De Dracone. Draco maior cunctorum serpentium, sive omnium animalium super terram. Qui sepe a speluncis abstractus fertur in aerem concitaturque propter aerem. Est autem cristatus, ore parvo, artis fistulis, per quas trahit spiritum, lingua exerat. Vim autem non in dentibus, sed in cauda habet, et verbere potius quam rictu nocet. Innoxius autem est a venenis, sed ideo ad faciendam mortem venena non sunt necessaria, quia si quem ligaverit, occidit cauda. A quo nec elephas tutus est … sui corporis magnitudine. Nam circa semitas delitescens, per quas eliphanti solito gradiuntur, crura illorum nodis alligat, ac suffocatos perimit, et sic ipse cum *elephantibus o…*. Gignitur autem in Ethiopia et India in ipso incendio iugis estus. – Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hrsg. von Hartmut Kugler, unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing, Bd. I: Atlas, Berlin 2007, S. 25.



Vom Drachen. Der Drache ist die größte aller Schlangenarten oder sogar aller Landtiere. Oft steigt er, aus den Höhlen gerissen, in die Lüfte, und die Luft wird dadurch aufgewirbelt (?). Er hat einen gezackten Rücken, ein schmales Maul und einen engen Schlund, durch den er atmet und züngelt. Seine Stärke liegt nicht im Gebiss, sondern im Schwanz, und weniger seine Bisse als seine Schwanzlänge sind gefährlich. Er ist nicht giftig und hat, wie man sagt, auch kein Gift zum Töten nötig, weil er, wenn er einen gefesselt hat, ihn mit dem Schwanz tötet. Vor ihm mit seinem gewaltigen Körper ist nicht einmal der Elefant sicher. Indem er sich nämlich am Rande der Elefantenpfade versteckt, umschlingt er ihre Beine und tötet sie durch Ersticken, und so… sogar mit den Elefanten. Der Drache kommt in Äthiopien und in Indien vor, und zwar in glühendheißem, beständigem Brand.



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Auf der Ebstorfer Weltkarte befinden sich zu den dargestellten Kreaturen nähere Erläuterungen zu ihrer Herkunft, ihrem Verhalten und zu ihren Eigenschaften (im hellen Kreis die Passage zum Drachen). Deren inhaltliche Verwandtschaft zu den Ausführungen Isidors von Sevilla (s. o.) und in der Konsequenz mittelalterlicher Wissensliteratur ist kaum zu leugnen.



Es ist nicht selten, dass mittelalterliche Weltkarten über ihr Bild- und Textprogramm gleichsam als Tieratlas fungieren oder wenigstens die Kreaturen abbilden bzw. nennen. In diesem Medium werden die Geschöpfe des Mittelalters also mitunter ganz anschaulich zum Leben erweckt – in den Lebensräumen, die ihnen von den naturkundlichen Texten der Zeit zugewiesen werden. Darüber hinaus eroberten sich die Drachen auch Lebensräume in anderen literarischen Gattungen.



Drachen in der deutschen höfischen Literatur des Mittelalters

Neben den gelehrten Schriften fanden Drachen auch einen festen Platz in der „Unterhaltungsliteratur“ des Mittelalters, die im Folgenden in Ausschnitten vorgestellt werden soll. In Heldenepen, Ritterromanen und in der Lyrik treiben unzählige Vertreter der Gattung ihr Unwesen, bewohnen Höhlen, Berge und Wälder, fressen Bauern und Ritter und sterben durch die Hand von Helden.



Siegfried der Drachentöter

Der vielleicht bekannteste Text, der heute hierzulande mit einem Drachenkampf in Verbindung gebracht wird, ist das heldenepische ›Nibelungenlied‹. Beinahe jede Adaption des Stoffes inszeniert dezidiert den Kampf Siegfrieds gegen den Drachen und das anschließende Bad des Helden im Drachenblut, das seine Haut undurchdringlich macht – mit Ausnahme einer Stelle zwischen den Schulterblättern, auf die sich ein Lindenblatt gelegt hat.



Das eigentliche Heldenlied, nach wahrscheinlich Jahrhunderte alter Tradition, in der es mündlich überliefert wurde, um das Jahr 1200 in mittelhochdeutscher Sprache niedergeschrieben, kennt diese Inhalte allerdings nur im Rückblick. Zwar sind Drachenkampf und Blutbad motivkonstituierend, sie werden in der Handlung aber keineswegs in epischer Breite inszeniert, sondern liegen in der heroischen Vergangenheit des Protagonisten Siegfried und begründen dessen Ruf als Heros. Als dieser, um Kriemhild für sich zu gewinnen, zu Beginn der Handlung mit seinen Begleitern am Wormser Hof erscheint, ist es Hagen, der den Umstehenden über die vergangenen Taten des Besuchers Auskunft geben kann:



Ich weiß noch mehr von ihm, was mir zu Ohren gekommen ist. Einen Drachen hat der Held erschlagen. Er badete sich in dem Blute, und daraufhin hat er eine Hornhaut bekommen. Deshalb verwundet ihn keine Waffe, wie sich schon gezeigt hat. Wir werden den Herrn möglichst freundlich empfangen, damit wir uns nicht die Feindschaft des jungen Kämpfers zuziehen. Er ist so ungebärdig kühn, dass man ihn freundlich gegen sich stimmen sollte. Mit seiner Stärke hat er schon viele Wundertaten vollbracht.



Noch weiz ich an im mêre | daz mir ist bekant. / einen lintrachen | den sluoc des heldes hant. / er badet‘ sich in dem bluote: | sîn hût wart húrnín. / des snîdet in kein wâfen; | daz ist dicke worden scîn. Wir suln die herren | enpfâhen deste baz, / daz wirt iht verdienen | des jungen recken haz. / sîn lîp der ist sô küene, | man sol in holden hân. / er hât mit sîner krefte | sô menegiu wúndér getân. – Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2002 (= Reclams Universal-Bibliothek 644), S. 36-37, Str. 100-101.



Bedeutsam wird die Drachenszene später. Siegfried hat sich durch sein Verhalten am Wormser Hof nicht nur Freunde gemacht. Hagen plant als Interessenvertreter der Wormser Könige Siegfrieds Ermordung, weiß aber um dessen übermenschlichen Kräfte und vermeintliche Unverwundbarkeit. Mit einer List erhofft sich Hagen, Siegfrieds Schwachstelle zu erfahren. Bei dessen Frau Kriemhild tut er besorgt und gibt vor, Siegfried im drohenden Krieg gegen die Dänen und Sachsen besser beschützen zu wollen:



Sie sagte: „Du bist mit mir verwandt und ich mit dir. Deshalb vertraue ich dir in Treue meinen lieben Mann an, damit du ihn mir gut beschützt.“ Nun erzählte sie ihm die ihr bekannten Geheimnisse, die aber besser unerwähnt geblieben wären. Sie sagte: „Mein Mann ist mutig und dazu überaus stark. Als er den Drachen am Berg erschlagen hatte, badete sich der stolze Kämpfer im Blute. Deshalb hat ihn seither keine Waffe in den Kriegsstürmen verwundet. […] Als aus den Wunden des Drachen das heiße Blut herausfloss und der tapfere, gute Ritter sich darin badete, fiel ihm zwischen die Schulterblätter ein ziemlich breites Lindenblatt. An dieser Stelle kann man ihn verwunden, und deshalb mache ich mir große Sorgen.“



Si sprách: „dú bist mîn mâc, | sô bin ich der dîn. / ich bevilhe dir mit triuwen | den holden wine mîn, / daz du mir wol behüetest | den mînen lieben man.“ si sagt‘ im kundiu mære, | diu bezzer wæren verlân. Si sprach: „mîn man ist küene | unt dar zuo starc genuoc. / dô er den líntráchen | an dem berge sluoc, / jâ bádete sich ín dem bluote | der recke vil gemeit, / dâ von in sît in stürmen / níe dehein wâfén versneit. […] Dô von den trachen wunden | vlôz das heize bluot / und sich dar inne badete | der küene ritter guot, / dô viel im zwischen die herte | ein lindenblatte vil breit. / dâ mac man in versnîden: | des ist mir sorgen vil bereit.“ – Das Nibelungenlied, S. 274-275, Str. 898-902.



Hagen hat die Information erhalten, die er benötigt, um Siegfried zu töten: Während einer fingierten Jagd wird Siegfried von Hagen hinterrücks erstochen – genau durch die Stelle zwischen den Schulterblättern, die Kriemhild ihrem Verwandten im guten Glauben enthüllt hat. So wird Siegfried der Drachentöter letzten Endes Opfer eines noch heimtückischeren Feindes.



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Siegfrieds Bad im Drachenblut ist eine der ikonographischsten Szenen in der jüngeren Nibelungenliedrezeption. Das Lindenblatt, das sich auf das Schulterblatt legt, besiegelt letztlich den Tod des Helden. Neben dem Blut schreibt das Mittelalter insbesondere dem sog. Drachenstein, einem Edelstein, der im Gehirn der Kreatur wächst, eine besondere Bedeutung zu (dazu später mehr).



Artusritter im Kampf gegen Drachen

Nicht nur die Heldenepen, auch die literarischen Landschaften der Artusromane werden von zahlreichen Drachen bevölkert. Welche Kreatur ist geeigneter, die ritterliche Befähigung zur Schau zu stellen, als ein Drache? So gehört es in den Artusromanen beinahe zum guten Ton, dass der Protagonist im Laufe der Handlung wenigstens einen Drachen erschlägt – eine Auseinandersetzung, die bis heute nahezu ikonographisch geworden ist.



Es gibt seit dem Hochmittelalter eine Fülle verschiedener Artusromane, in deren Mittelpunkt jeweils einer der Ritter der Tafelrunde steht. Einer dieser Ritter ist Iwein, um dessen Figur um das Jahr 1200 Hartmann von Aue einen eigenen Roman in mittelhochdeutscher Sprache verfasst hat. In diesem begegnet der Ritter ebenfalls einem Drachen – und einem zweiten Geschöpf.



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Der Kampf Ritter gegen Drache ist fester Motivbestandteil bis in das Angebot an Literatur, Spielzeug und Kuscheltieren für Kinder und Kleinkinder. So muss auch Ritter Victor gegen den Drachen mit den tausend Zähnen kämpfen, der sich letztlich kindgerecht als gar nicht so bedrohlich entpuppt.



Iwein der Löwenritter

Nachdem Iwein im Laufe der Handlung die Herrin von Narison gerettet hat, verschlägt es ihn in einen nahen Wald. Dort hört er ein grimmiges Brüllen, dem er durchs Dickicht bis zu einer Lichtung folgt, auf der sich ein außergewöhnlicher Zweikampf ereignet:



Unmäßig laut hörte er eine Stimme, klagend und doch grimmig. Unser Herr Iwein wusste zuerst nicht, von wem sie kam, von einem Drachen oder einem wilden Tier, er fand es aber bald heraus. Denn jene Stimme leitete ihn durch den dichten Wald dorthin, zu einer Lichtung, wo er sah, dass sich ein grimmiger Kampf abspielte, in dem ein Drache und ein Löwe unerbittlich kämpften.



lûte âne mâze / hôrter eine stimme / clägelîch unde grimme. / nûne weste mîn her Îwein / von wederm si gienge under den zwein, / von wurme ode von tiere: / er bevand ez aber schiere. / nû wîste diu stimme in / durch micheln walt hin / dâ er an einer bloeze gesach / daz ein grimmer kampf geschach, / dâ mit unverzagten siten / ein wurm unde ein leu striten.



Hin- und hergerissen, welcher Kreatur er beistehen soll, beobachtet Iwein den Kampf zwischen dem Drachen und dem Löwen. In kurzen Versen schildert der Artusroman die riesige und kräftige Erscheinung des furchterregenden Drachen, der seinen Widersacher mit seinem Feueratem und seinem Gestank arg bedrängt:



Der Drache war stark und gewaltig, das Feuer schoss ihm aus dem Maul, und die Hitze und der Gestank trugen dazu bei, dass er den Löwen so bedrängte, dass er überlaut brüllte. Herr Iwein plagte der Zweifel, wem von beiden er helfen sollte, und kam zu dem Entschluss, dem edleren Tiere zu helfen. […]



der wurm was starc unde grôz: / daz viur im ûz dem munde schôz. / im half diu hitze unde der stanc, / daz er den leun des betwanc / daz er vil lûte schrê. / dem hern Îwein tet der zwîvel wê / wederm er helfen solde, / doch gedâht er daz er wolde / helfem dem edeln tiere. […]



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Von der gewaltigen Größe des Drachens ist in dieser Miniatur, welche die französische Vorlage von Hartmanns Erzählung illustriert, indes nicht mehr viel zu spüren. Der kleine Drache, der den Löwen in den Schwanz zwickt, wird vom tapferen Ritter kurzerhand in zwei Teile gehackt.



Iweins Kampf gegen den Drachen selbst ist dem Verfasser dann nur noch wenige Verse wert: Obwohl der Text die Kreatur monströs schildert, erschlägt der Ritter die Kreatur ohne viel Federlesens und rettet damit den Löwen, der in der Folge der treue Begleiter des Ritters wird.



Er wagte es jedoch als tapferer Mann, stieg ab und griff den Drachen an und schlug ihn gleich tot und half so dem edleren Tier.



doch tet er als ein vrum man, / er erbeizte unde lief den wurm an / unde sluoc in harte schiere / unde half dem edeln tiere. – Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hrsg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29), S. 524-527, V. 3828-3864.



Inwiefern in dieser Passage ein allegorischer Gehalt mittransportiert wird (der Löwe ist ein klassisches Symbol für Christus, der Drache für Satan), ist in der Forschung umstritten und kann in unserem Kontext offen bleiben. Der Drachen-Löwen-Kampf ist in mittelalterlichen Texten und Bildprogrammen aber ein verbreitetes Motiv und wird uns im Folgenden immer wieder in abgewandelter Form begegnen.¹⁰



Tristan

Der Erzählstoff um Tristan und Isolde ist weit bekannt: ein magischer Liebestrank, eine Dreiecksbeziehung mit Konfliktpotential, ein Ende, das Shakespears ›Romeo und Julia‹ in nichts nachsteht (jedenfalls in den Fassungen der Erzählungen, die über ein Ende verfügen). Auch hier kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Ritter und Drache: sowohl im ›Tristrant‹ des Dichters Eilhart von Oberge als auch im ›Tristan‹ des berühmten Straßburger Meisters Gottfried.¹¹



Die Episode des Drachenkampfes im ›Tristrant‹ Eilharts von Oberge beginnt wie ein klassisches Rittermärchen: Ein wütender Drache verwüstet das Königreich und versetzt König und Volk gleichermaßen in Schrecken. Der Herrscher ist so verzweifelt, dass er schließlich demjenigen seine Tochter zur Frau verspricht, der sein Land von der geschuppten Plage befreit.



Tristrant lässt sich nicht zweimal bitten und bricht in den nahen Wald auf, in dem sich das Untier aufhalten soll. Fünf Männern, die zwischen den Bäumen nach dem Drachen Ausschau halten, sich aber aus Angst vor der Bestie nicht tiefer in den Wald wagen, presst der Ritter gewaltsam eine Wegbeschreibung ab:



Dann galoppierte er auf ihn zu, doch seine Lanze zersplitterte an ihm, ohne dem Drachen auch nur die Bohne zu schaden. Nachdem Tristrant beim Anrennen seine Lanze zerbrochen hatte, riss er das Schwert heraus. Doch nun verbrannte der Drache mit Feueratem Tristrants Ross bis auf die Knochen. Jetzt griff der edle Held den Drachen zu Fuß an, um ihn zu töten, und er ließ das Schwert, das er mit der Faust umklammerte, auf ihn niedersausen. […] So besiegte der Held den gewaltigen Drachen.



an in rant do der kün man / und stach an im sin sper enzway. / daß schied im alß um ain ay. / do er also gestach / und der schafft im brach, / daß schwert ruckt er zehand. / do brant im der serpant / daß roß biß uff daß gebain. / an in lieff do der held rain, / wann er sinß libß gert. / er schluog in mit dem schwert, / daß er in der hand truog. / […] da gesigt der kün man / an dem tracken, der waß groß.



So kurz und schmerzhaft der Kampf auch war, er geht an Tristrant nicht spurlos vorbei und entbehrt in der Schilderung auch nicht komischer Aspekte:



Da begab er sich zu einer feuchten, sumpfigen Wiese, um dort Kühlung zu finden, war doch der herrliche Held nach dem Kampfe geschwärzt wie ein Stück Holzkohle.



da wolt er erkülen sich, / wann der tegen so herrlich / waß worden schwartz so ain brand. – Eilhart von Oberge, Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg. von Danielle Buschinger / Wolfgang Spiewok, Greifswald 1993 (= Wodan. Greifswalder Beiträge zu Mittelalter 27), S. 46-47.



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Eindrücklich ins Bild gesetzt ist im umfangreichsten profanen Freskenzyklus des Mittelalters auf Schloss Runkelstein in Südtirol die Szene, in der Tristan dem getöteten Drachen als Siegesbeweis die Zunge aus dem Maul schneidet (entstanden um 1410).



Die bedeutendste Version des Tristanstoffes schuf um das Jahr 1210 der Dichter Gottfried von Straßburg († um 1215). Gottfrieds Werk besticht durch seine literarische Qualität, weckt aber auch Aufmerksamkeit aufgrund des Umstandes, dass es aus ungeklärten Umständen Fragment geblieben ist. Wie Gottfrieds Geschichte enden sollte, weiß man daher nicht. Einen prominenten Platz in der Handlung nimmt auch bei Gottfried ein Drache ein, der Irland heimsucht. Wer ihn tötet, so auch auch in Gottfrieds Fassung das Versprechen des Königs, bekäme als Belohnung die Hand seiner Tochter gereicht.



Die Erzählung berichtet von einem Drachen, der dort im Reich hauste. Dieses verfluchte Untier hatte Land und Leute mit so schrecklichem Unglück so furchtbar überschüttet, dass der König einen königlichen Eid geschworen hatte: Wer immer ihn umbrächte, dem wollte er seine Tochter geben, sofern er adlig und ein Ritter sei. Diese Nachricht und das herrliche Mädchen kosteten Tausende das Leben, die zum Kampf gekommen waren und dort den Tod gefunden hatten. – Gottfried von Straßburg, Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1: Text, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, 11. Auflage, Stuttgart 2006 (= Reclams Universal-Bibliothek 4471), V. 8902-8918, S. 535.



daz maere saget unde giht / von einem serpande, / der was dô dâ ze lande. / der selbe leide vâlant / der haete liute unde lant / mit alsô schedelîchen schaden / sô schedelîchen überladen, / daz der künic swuor einen eit / bî küniclîcher wârheit: / swer ime benaeme daz leben, / er wolte im sîne tohter geben, / der edel und ritter waere. / diz selbe lantmaere / und daz vil wunneclîche wîp / diu verluren tûsenden den lîp, / die dar ze kampfe kâmen, / ir ende dâ genâmen. – Gottfried von Straßburg, Tristan, S. 534.



Ein Mann hat es im besonderen Maße auf die Prinzessin abgesehen; der Truchsess. Doch als hausgemachter Feigling und Opportunist scheut er die direkte Konfrontation mit dem Drachen, der im Tal von Anferginan sein Unwesen treibt. Aus einem ganz anderen Holz ist Tristan geschnitzt, der den Drachen aufstöbert und zu töten versucht.



Aus seinem Rachen schleuderte er Rauch, Flammen und Sturm wie ein Kind des Teufels und wandte sich ihm zu. Tristan senkte den Speer und trieb das Pferd mit den Sporen an. Er ritt so gewaltig heran, dass er ihm den Speer in den Schlund stieß, so dass er ihm den Rachen zerriss und innen im Herzen steckenblieb. Er selbst prallte auf den Drachen so heftig mit dem Pferd, dass er es tot zurücklassen musste und mit knapper Not lebend entkam. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 8970-8983, S. 539.



der warf ûz sînem rachen / rouch unde vlammen unde wint / alse des tiuveles kint / und kêrte gein im aldort her. / Tristan der sancte daz sper, / daz ors er mit den sporen nam. / sô swinde er dar gerüeret kam, / daz er’m daz sper zem giele în stach, / sô daz ez ime den rachen brach / und innen an dem herzen want / und er selbe ûf den serpant / sô sêre mit dem orse stiez, / daz er daz ors dâ tôtez liez / und er dâ von vil kûme entran. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 8970-8983, S. 538.



Tristans Kampf mit dem Drachen ist ein Schlagabtausch auf Leben und Tod. Obwohl des Ritters Lanze das Herz des Untieres durchstößt, ist die Auseinandersetzung noch lange nicht entschieden. Mit Klauen, Zähnen und Feuer bringt der Drache Tristan in große Bedrängnis.



Er führte mit sich in den Kampf Rauch und Dampf und andere Hilfsmittel an Schlägen und Feuer, an Zähnen und Klauen. Sie waren geschliffen messerscharf und spitz und schärfer als eine Scherklinge. […] Trotzdem hatte er es so heftig mit Gegenangriffen versucht, dass ihm der Schild an der Hand fast völlig zu Kohle verbrannt war, denn er fiel ihn mit seinem Feueratem an, dass er ihm nur mit Mühe entkommen konnte. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 9017-9036, S. 541.



er vuorte mit im an den kampf / beidiu rouch unde tampf / und andere stiure / an slegen unde an viure, / a zenen unde an griffen: / die wâren gesliffen, / sêre scharpf unde wahs, / noch wahser danne ein scharsahs. […] und haete ez doch sô sêre / versuochet mit der kêre, / daz ime der schilt vor der hant / vil nâch ze koln was verbrant, / wan er gieng in mit viure an, / daz er im kûme vor entran. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 9017-9036, S. 540.



Doch schließlich zeigt der Speer im Herzen des Drachen Wirkung. Die Kreatur, dem Tode nahe, ist am Ende ihrer Kräfte. Tristan nutzt die Gelegenheit:



Da zögerte Tristan nicht lange. Er kam schnell heran. Das Schwert stieß er, wo der Speer war, ihm ins Herz bis ans Heft. Da ließ das todgeweihte Ungeheuer einen Schrei und ein Gebrüll so schrecklich und grauenhaft aus seinem unseligen Rachen, als ob der Himmel und die Erde einstürzten […]. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 9044-9052, S. 543.



Tristan was aber unlange. / er kam gerüeret balde her, / daz swert daz stach er zuo dem sper / zem herzen în unz an die hant. / nu lie der veige vâlant / einen dôz und eine stimme / sô griulîch und sô grimme / ûz sînem veigen giele, / als himel und erde viele […]. – Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 9044-9052, S. 542.



Der Drache ist nach langem Kampf erlegt. Um seine Tat vor dem irischen Hof beweisen zu können, schneidet Tristan der Kreatur die Zunge aus dem Maul, bevor er vom Kampf erschöpft zusammenbricht. Und Tristan hat gut daran getan, sich eine Trophäe zu sichern. Denn der hinterhältige Truchsess reklamiert die Drachentötung für sich. Nur die Zunge kann später den Truchsess als Scharlatan entlarven und Tristans Heldentat publik machen.



Ein Drache zum Küssen

Auch wenn die meisten Drachen wilde Ungeheuer sind, die es im Kampf zu überwältigen gilt, so gibt es doch Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen findet sich im ›Lanzelet‹ des Ulrich von Zatzikhoven (entstanden um 1200). Hier wird eine Dame mit dem Namen Elidia aufgrund ihres untreuen Verhaltens als Bestrafung in einen hässlichen Drachen verwandelt. Nur der Kuss eines Ritters kann sie von diesem Schicksal erlösen.



Da kam der flinke Roidurant in einen wilden Wald. Dort fand der gute Ritter einen großen Drachen, der schrecklicher aussah als jedes andere Tier. Dieser sprach genauso wie ein Mann. Er rief den Ritter laut an, dass er ihn um Gottes Willen küssen solle. Daran hatte der Haudegen kein Interesse, die ganze Sache war ihm nicht geheuer. Er erzählte dieses Abenteuer daheim, und was ihm geschehen war. Daraufhin zog die ganze Schar aus, um diesen Drachen mit eigenen Augen zu sehen. Wann auch immer er die Ritter bemerkte, so bat er sie, ihn zu küssen. Die Helden rüsteten sich dann mehr zur Flucht als es ihnen ziemen würde.



dô kam der snelle Roidurant / in einen wilden foreht. / dâ vant der selbe guote kneht / einen grôzen wurm, der was gebart, / daz nie tier sô vreislich wart. / er sprach rehte als ein man. / er ruofte den recken dicke an, / daz ern durch got kuste. / den degen des niht geluste, / er dûht in ungehiure. / er saget ez ze âventiure / hie heime, wie im was geschehen. / dô fuor den selben wurm sehen / vil nâch diu massenîe gar. / swenn er der ritter wart gewar, / sô bat er daz sin kusten. / die helden sich dan rusten / mê ze flühte danne zim. – Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Eine Erzählung, hrsg. von K. A. Hahn. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman, Berlin 1965 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), S. 183-184, V. 7844-7861.



Obwohl der sprechende Drache große Aufmerksamkeit erregt, traut sich niemand der tapferen Ritter, seinem Wunsch nachzukommen. Einzig Lanzelet, der Held des Romans, wagt es, mit dem Drachen in einen Dialog zu treten.



Sobald ihn der Drache erblickte und hörte, richtete er sich vor Freude auf und schrie auf fremdartige Weise wie ein wildes Weib: „Oh weh, wie lange soll ich dich nur bitten?“ […] „Nein, Held, das lass sein“, sprach der große Drache: „Gott hat Menschen und Länder von mancherlei Wunder erschaffen und mit seinem Mysterium bedacht. Davon bin ich ein Teil. Würde nun irgendein Ritter leben, der mich auf den Mund küsste, so würde ich schön und auf der Stelle gesund. Bisher konnte ich dies aber von niemandem erbitten, da alle, die mich angesehen haben, mit großer Aufgebrachtheit flohen. Doch würde sich ein Ritter beeilen, mich zu küssen, so würde es sich auf diese Weise bessern: Denn dieser wäre ohne falsche Arglist der beste Ritter, der auf Erden lebt.



als schiere er in gesach / und in der wurm erhôrte, / von vreude er sich erbôrte, / vil vremdeclîchen er schrê / als ein wildez wîp, ôwê, / wie lange sol ich bîten dîn? […] ,neinâ, helt, daz verbir‘, / sprach der grôze serpant: / ‚got hât liut unde lant / von manegem wunder gemaht, / mit sîner tougen bedaht. / der selben dinge bin ich ein. / wan lebet nu ritter dehein, / der mich kuste an mînen munt! / sô wurde ich schoene und sâ gesunt. / ich enmohts ab nieman nie erbiten, / si envlühen gar mit unsiten, / alle die mich ie gesâhen. / doch möhter gerne gâhen, / ein ritter, daz er kuste mich: / dâ mite bezzert er sich: / wan swem daz erteilet ist, / der ist âne kargen list / der beste ritter, der nu lebet. – Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, S. 185, V. 7904-7921.



Im Gegensatz zu den tapferen Heerscharen an Rittern, die sensationsgierig den sprechenden Drachen mit eigenen Augen sehen möchten, nach Ansprache aber direkt wieder die Flucht ergreifen, lässt sich Lanzelet von der verzweifelten Dame in Drachengestalt nicht zweimal bitten:



Da sprach Lanzelet: „Das mache ich, was auch immer daraus werde.“ Er stieg von seinem Ross und küsste den hässlich gestalteten Mund. Auf der Stelle flog der Drache davon, bis an die Stelle, an der ein Gewässer floss, in dem er seinen rauhen Körper badete. Er verwandelte sich so in die schönste Frau, die jemals jemand erblickt hatte.



dô sprach Lanzelet ‚dâz tuon ich, / swaz immer drûz werde.‘ / er erbeizte ûf die erde / und kuste den wirst getânen munt, / der im vordes ie wart kunt. / zehant vlôch der wurm hin dan, / dâ ein schoene wazzer ran, / und badet sînen rûhen lîp. / er wart daz schoenste wîp, / die ieman ie dâ vor gesach. – Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, S. 185-186, V. 7930-7939.



Die Begegnung mit dem Drachen in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹ ist eine friedvolle Ausnahme und münzt die Bewährungsprobe des Helden um. Nicht der aufopferungsvolle Kampf gegen das Untier soll die Tugend des Ritters demonstrieren; er bessert sich, so die Drachenfrau, durch seinen aufopferungsvollen Kuss. Damit zeigt der Artusroman wie wandlungsfähig Drachen in eine Erzählhandlung integriert werden können.



Drachen in Menschengestalt – Gervasius von Tilbury und die ›Otia Imperialia‹

Einen ganz besonderen Text schrieb im frühen 13. Jahrhundert der englische Gelehrte Gervasius von Tilbury, der in der Forschung lange Zeit als kluger Kopf hinter der Entstehung der Ebstorfer Weltkarte (s.o.) gehandelt wurde. Seine ›Otia Imperialia‹ (›Kaiserliche Mußestunden‹), die Gervasius um das Jahr 1215 dem deutschen Kaiser Otto IV. widmete, sind ein lehrreiches wie lesenswertes Stück Unterhaltungsliteratur mit enzyklopädischem Anspruch und bestehen aus drei Büchern. Das dritte und letzte Buch enthält zahlreiche Mirakelerzählungen, Aberglauben, Sagenhaftes, Anekdoten und Wunderliches – und natürlich auch Drachen. Drei wundersame Geschichten interessieren uns im Folgenden.



Die eine berichtet von Drachen, die in der Lage sind, menschliche Gestalt oder die Erscheinung von Gegenständen anzunehmen. Auf diese Weise versuchen sie, arglose und unvorsichtige Frauen und Kinder zu entführen:



Im Volksglauben nehmen aber auch die Drachen bisweilen Menschengestalt an, und ihre Anführer finden sich auf einem öffentlichen Platz ein, ohne dass jemand sie erkennt. Man sagt, sie hausen in den Höhlungen von Flüssen und locken bisweilen in Gestalt von goldenen Ringen oder Schalen, die an der Oberfläche schwimmen, Frauen und Kinder an, die am Flussufer baden. Und sobald diese das, was sie sehen, auch haben wollen, werden sie plötzlich gepackt und in die Tiefe gerissen. Und davon sind, wie es heißt, ganz besonders stillende Frauen betroffen. Die Drachen entführen sie, um ihre erbärmliche Brut zu nähren. Manchmal kehren diese Frauen nach sieben Jahren mit einer Belohnung in unsere Hemisphäre zurück. Und sie erzählen sogar, sie hätten in weitläufigen Palästen gemeinsam mit den Drachen und ihren Ehefrauen in den Höhlungen und an den Ufern der Flüsse gewohnt. – Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden. Otia imperialia, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinz Erich Stiene, zweiter Halbband, Stuttgart 2009 (= Bibliothek der Mittellateinischen Literatur 7), S. 396.



Set et drachos vulgus asserit formam hominum assumere, primosque in forum publicum adventare sine cuiusuis agnitione. Hos perhibent in cavernis fluvorium mansionem habere, et nunc in specie aureorum anulorum supernatantium aut ciphorum mulieres allicere ac pueros in ripis fluminum balneantes; nam dum visa cupiunt consequi, subito raptu coguntur ad intima delabi. Nec plus hoc contingere dicunt aliquibis quam feminis lactantibus, quas draci rapiunt ut prolem suam infelicem nutriant; et nonnumquam post exactum septennium remunerate ad hoc nostrum redeunt emisperium, que etiam narrant se in amplis palatiis cum dracis et eorum uxoribus in cavernis et ripis fluminum habitasse. – Gervase of Tilbury, Otia imperialia. Recreation for an Emperor, editet and translanted by S. E. Banks / J. W. Binns, Oxford 2002 (= Oxford Medieval Texts), S. 718.



Gervasius gibt an, dass es sich bei der Erzählung nicht um Fiktion handle; er selbst habe eine solche Frau persönlich getroffen, die von einem Drachen entführt in dessen Reich gebracht worden sei, wo sie jahrelang als Amme für den Drachennachwuchs dienen musste. Obwohl sie nach langer Zeit wieder nach Hause kehren durfte, nahm die Geschichte für sie kein gutes Ende:



Wir selbst haben eine solche Frau gesehen, die entführt worden war. Während sie am Ufer der Rhône Tücher wusch, trieb auf dem Wasser eine hölzerne Schale. Doch als die Frau ihr folgte, um sie an sich zu nehmen, und dabei weiter ins tiefere Wasser ging, da wurde sie von einem Drachen hineingezogen. Unter Wasser wurde sie die Amme seines Sohnes. Nach sieben Jahren kehrte sie unversehrt zurück, wurde aber von ihrem Mann und den Freunden kaum erkannt. Sie berichtete ähnlich Erstaunliches, nämlich dass die Drachen sich von geraubten Menschen ernähren und Menschengestalt annähmen. Als der Drache ihr eines Tages eine Portion Aalpastete gegeben hatte, berührte sie mit ihren fettigen Fingern zufällig ein Auge und eine Gesichtshälfte. Dadurch erlangte sie die Fähigkeit, unter Wasser ganz klar und deutlich zu sehen. Als ihre Zeit zu Ende gegangen und sie nach Hause zurückgekehrt war, begegnete sie auf dem Marktplatz von Beaucaire in aller Herrgottsfrühe dem Drachen. Sie erkannte und grüßte ihn und erkundigte sich nach der Herrin und ihrem Ziehkind. Darauf entgegnete der Drache: „Na sowas! Mit welchem Auge hast du mich erkannt?“ Die Frau zeigte auf das Auge, mit dem sie ihn gesehen hatte, also auf jenes, das sie eins mit dem Pastetenfett beschmiert hatte. Kaum hatte sie das gesagt, da bohrte der Drache der Frau seinen Finger in ebendieses Auge. So konnte er fortan umhergehen, ohne gesehen und erkannt zu werden. – Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden II, S. 396.



Vidimus equidem huiuscemodi feminam raptam dum in ripa fluminis Rodani panniculos ablueret, cipho ligneo superenatante, quem dum ad comprehendendum sequeretur, ad altiora progessa, a draco introfertur; nutrixque facta filii sui sub aqua, illesa rediit, a viro et amicis vix agnita, post septennium. Narrabat eque miranda, quod hominibus raptis draci vescebantur, et se in humanas species transformabant. Cumque uno aliquo die pastillum anguillarem pro parte dracus nutrici dedisset, ipsa, digitos adype linitos ad oculum unum et unam faciem casu ducens, meruit limpidissimum sub aqua ac subtilissimum habere intuitum. Completo ergo sue vicis termino, cum ad propria rediisset, in foro Bellicadri summo mane dracum obvium habuit, quem agnitum salutavit, de statu domine ac alumpni sui questionem faciens. Ad hec dracus ‚Heus,‘ inquit, ‚quonam oculo mei cepisti agnitionem?‘ At illa oculum visionis indicat, quem adipe pastilli pridem perunxerat; quo comperto, dracus digitum oculo mulieris infixit, sicque de cetero non visus aut agnoscibilis divertit. – Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 718-720.



Der Fluss Rhône, der bereits den Schauplatz für die Bändigung des Drachen Taracus durch die heilige Martha bildete, ist nach Gervasius‘ Ausführungen ein dichtbevölkertes Drachenhabitat. Auch in der Nähe von Arles treiben die Kreaturen ihr Unwesen und locken in Menschengestalt unbedarfte Wanderer und Einheimische ins Verderben:



Wir bleiben am Ufer der Rhône. Im Bereich des Ritterhauses am Nordtor der Stadt Arles ist eine tiefe Stelle im Fluss, ebenso unterhalb des Felsens in der Stadt Tarascon. Dort verbarg sich zur Zeit der heiligen Martha (der Gastgeberin Christi und Schwester des Lazarus und der Magdalena) der Tarascus, eine Schlange aus dem Stamme jener entsetzlichen Seeschlange Leviathan, um sich Menschen einzuverleiben, die sich auf der Rhône tummelten. Wie es heißt, sieht man an diesen abgrundtiefen Stellen in klarer Nacht sehr oft Drachen in Menschengestalt. Erst wenige Jahre ist es her, da hörten an einer Stelle außerhalb des besagten Stadttores alle Leute drei Tage lang eine Stimme aus der Tiefe der Rhône rufen, während ein menschenähnliches Wesen am Ufer hin und her lief: „Die Stunde ist vorbei und der Mann ist nicht gekommen!“ Als am dritten Tag gegen drei Uhr das menschenähnliche Wesen seine Stimme besonders schrill ertönen ließ, wurde ein junger Mann, der flink ans Ufer rannte, zur Gänze verschluckt. Und fortan hörte man die Stimme nicht mehr. – Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden II, S. 396-397.



Sed et in Rodani ripa. sub continentia domus milicie ad portam borealem civitatis Arelatensis, quedam fluminis abyssus est, sicut sub rupe castri Tarasconensis ubi, tempore beate Marthe (Christi hospite, Lazari ac Magdalene sororis), tarascus, serpens de genere pessimi illius Leviathan occeanalis anguis, occultabatur, ut homines per Rodanum sibi incorporaret. In his ergo locis profundissimis affirmant drachos sepissime de nocte lucida in specie humana videri. Unde paucis annis exactis, vox ex ipso Rodani profundo prodiens per continuum triduum publice audiebatur, in loco extra portam civitatis quam diximus, quasi specie hominis per ripam discurrente: ‚Hora preterit et homo non venit!‘ Die igitur tercia, cum circa horam nonam acrius hominis illa species vocem memoratam exaggeraret, festino cursu iuvenis quidam ad ripam adveniens totus imbibitur; et ita vox illa de cetero audita non fuit. – Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 720.



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Dass Drachen auch in Menschengestalt agieren können, ist im Fantasygenre über die Mediengrenzen hinweg seit Jahrzehnten ein verbreitetes Motiv und sorgt immer wieder für überraschende Wendungen in der Handlung. Zuletzt entpuppte sich – Achtung, Spoiler! – die Figur Borch Drei Bohlen in der aktuellen ›The Witcher‹-Serie als Golddrache Villentretenmerth).



Drachen in Menschengestalt – ein Motiv, das sich bis heute in die Populärkultur gehalten hat. Die vielleicht bekannteste Figur aus dem Mittelalter, die temporär und partiell in Drachengestalt erscheint, ist die Melusine. Ihre Geschichte gibt Gervasius von Tilbury im ersten Buch seiner ›Otia imperialia‹ in aller Kürze wieder, ohne jedoch den Namen der Dame zu nennen – im Anschluss an seine Ausführungen über die Schlange mit Frauenantlitz, die im Paradies Adam und Eva verführt hat (s. o.):



Ich selbst weiß von einer Geschichte, die mir seinerzeit glaubwürdig erzählt wurde. In der Provinz Aix, nur wenige Meilen von Aix entfernt, liegt die Burg Rousset; von ihr schaut man hinunter auf das Tal von Trets. Eines Tages ritt der Herr dieser Burg, Raimund geheißen, auf seinem Pferd allein am Fluss Lar entlang, der mitten durch das Tal fließt. Da kam ihm eine Dame entgegen; sie war über die Maßen schön, saß auf einem prächtig herausgeputzten Reitpferd und trug kostbare Kleider und Schmuck. Der Ritter grüßte sie, und sie erwiderte den Gruß und nannte dabei seinen Namen. Zwar wunderte er sich, seinen Namen aus dem Munde einer Unbekannten zu hören, doch begann er, wie es üblich ist, ihr mit anzüglichen Worten nahezutreten, um sie sich gefügig zu machen. Sie aber entgegnete, das dürfe außerhalb des ehelichen Bundes niemand, doch wenn er in eine Hochzeit einwillige, dann werde er die Freude der ersehnten Vereinigung genießen. Kurzum, der Ritter ging auf die Bedingungen für eine Hochzeit ein. Jedoch antwortete die Dame ihm, er werde sich in der Gemeinschaft mit ihr des höchsten irdischen Glücks erfreuen, solange er sie nicht nackt sehe. Sobald er sie aber nackt sehe, so versicherte sie, werde er allen Glückes verlustig gehen, und sie gab zu bedenken, sein erbärmliches Leben werde ihm dann kaum noch lebenswert sein. – Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden. Otia imperialia, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinz Erich Stiene, erster Halbband, Stuttgart 2009 (= Bibliothek der Mittellateinischen Literatur 6), S. 55.



Scio equidem mihi pridem relatum veridica naratione quod in Aquensi provincia, paucis ab Aquis miliaribus, est castrum Russectum, quod vallem Rezensem sub se missam respecit. Huius castri dominus, Raimundus nomine, cum uno aliquo die solus in equo vectitaretur iuxta decursum interluentis Laris fluvii, ex improvisio occurrit domina, nulli decore secunda, in palefrido falerato, vestibus et apparatu preciosis; cumque salutata a milite ipsum ex nomine resalutasset, ille ab ignota se nominatum audiens miratur, et nihilominus, ut moris est, illam cepit verbis lasciuis interpellare ut ei consentiat. Cui illa opponit hoc preter coniugalem copulam nulli licere, verum si in eius nuptias consentiat, ipsius poterit optatis frui complexibus. Quid ultra? Adquiescit conditionibus miles in nuptiis. At illa replicat illum summa temporalium felicitate ex eius commansione fruiturum dum ipsam nudam non viderit; verum ut ipsam nudam conspexerit, omni felicitate spoliandum asserit, et vix ei vitam miseram servandam esse proponit. – Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 88.



Es dauert jedoch nicht lange, bis der Ritter Raimund die Vereinbarung mit der Dame bricht. Er überrascht seine Frau beim Baden, die daraufhin in Schlangengestalt entschwindet. Das Glück des Ritters verlässt ihn wie angedroht.



Ich will es kurz machen. Der Ritter brannte darauf, seine Gattin nackt zu sehen, riss das Tuch fort, welches das Bad verhüllte – da verwandelte sich die Dame auf der Stelle in eine Schlange, tauchte kopfunter in das Badewasser und verschwand. Und nie wieder hat man etwas von ihr gesehen oder gehört. Nur wenn sie des Nachts ihre kleinen Kinder besuchen kam, hörten die Ammen sie, doch blieb es ihnen versagt, sie zu sehen. Glück und Gunst schwanden dem Ritter weitgehend dahin. – Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden I, S. 56.



Quod moror? Erepto linteo quo balneum operitur, miles ut uxorem nudam videat accenditur, statimque domina in serpentem conversa, misso sub aqua balnei capite, disparvit, numquam visa in posterum nec audita, nisi quandoque de nocte cum ad infantulos suos visitandos veniebat, nutricibus audientibus sed ab eius conspectu semper artatis. Sane miles felicitate ac gratia pro maxima parte minoratus […] pervenit. – Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 90.



Die Erzählung von einer Dame, die ein Geheimnis umgibt, findet ihren prominentesten Ausdruck in der Geschichte um die Melusine, die Thüring von Ringoltingen auf Grundlage einer französischen Vorlage in der Mitte des 15. Jahrhunderts ins Deutsche gebracht hat.



Die schöne Melusine

Der Kern von Thürings Melusinengeschichte ist das bereits kennengelernte Tabu – und dessen Bruch. Raymond, Spross eines verarmten Adelsgeschlechtes, willigt in eine Mahrtenehe (in der Regel ein Bund zwischen einer männlichen Figur und einem weiblichen überirdischen Wesen, dessen Bestand an die Achtung eines Verbots bzw. Tabus geknüpft ist) mit der wunderschönen Melusine ein. Melusine knüpft die Beziehung zu Raymond an folgende Bedingung:



Die Jungfrau sprach: „Raymond, so sollst du mir als Erstes bei Gott und seinem Leichnam schwören, dass du mich zur Ehefrau nehmen willst und an keinem Samstag nach mir fragen oder mich aufsuchen wirst […], wo auch immer ich sei, egal, was ich tue oder mache, und dass du mich den ganzen Tag des Samstags ausschließlich frei und unbekümmert lassen wirst. So werde ich dir im Gegenzug versprechen und loben, dass ich alle meine Tage, ausgenommen den Samstag, nichts unternehmen werde, dass dir schändlich, schädlich oder unehrenhaft sei“. Dies alles lobte und schwor ihr Raymond, aber ob er sein Versprechen hielt oder nicht, werden wir in der Folge hören, denn als er seinen Eid und seine Treue ihr gegenüber brach, brach große Trauer, großes Leid und großer Kummer über ihn herein.



Die jungfraw sprach: „Raymond, so soltu mir by dem ersten sweren by got und synem lichnam, das du mich zi eynem elichen gemachel nemen welst und an keynem samstag mir nyemer nach gefragen noch mich ersuchen wellest […], wa ich si, was ich tuon oder schaffe, sunder mir den gantzen tag des samstags fry und unbekümbert lassen wellest, so wil ich dir hin wider sweren und loben, das ich den selben und all myn zit und tag, besunder uff den tag, an kein ende komen wil, das dir schantlich, schädlich oder unerlich syge.“ Düß alles lopt und swur ir Raymond, aber ob er es hilt oder nit, werden wir nachmals horen, den er sin eyt und trüwe an ihr brach, darumb im groß iamer, leid und großer kumber zuoviel. – Thüring von Ringoltingen, Melusine, nach den Handschriften kritisch hrsg. von Karin Schneider, Berlin 1958 (= Texte des späten Mittelalters 9), S. 42.



Obwohl Raymond sehr von seiner Ehe mit der Melusine profitiert, kommt es im Handlungsverlauf zum zentralen Tabubruch. Der Ritter beobachtet entgegen ihrer Absprache seine Frau beim Baden.



Raymond spähte durch das Loch und sah, wie seine Frau und Liebhaberin nackt im Bad saß. Vom Nabel auf war sie eine außergewöhnlich schöne Frau, Körper und Antlitz unbeschreiblich schön. Aber vom Nabel abwärts erstreckte sich ein großer, langer Schwanz eines scheußlichen Drachen, blau wie Lasur und von weißsilbriger Farbe, gesprenkelt mit runden silbernen Tropfen.



Raymond gesach durch das loch hinin und sach, das sin wip und gemachel in eynem bade nacket saß, und sü was vom nabel uf ein uß der acht schöne wiplich bilde, von libe und angesicht unsaglich schön. Aber vom nabel hin der under teil was ein grosser langer fyentlicher wurms schwantz von blawer lasur mit wisser silbrin farbe und runden silberin tropfen gesprenget. – Thüring von Ringoltingen, Melusine, S. 81.



Auch wenn Melusine ihrem Mann diesen ersten Tabubruch noch verzeiht, bleibt ihre Beziehung nicht von Dauer. Die Geschichte endet so tragisch wie die Episode bei Gervasius von Tilbury.



Der Held wird zum Drachenfutter – und gerächt: Ortnit und Wolfdietrich

Neben den zahlreichen Drachenspezies, welche die Bild-, Text- und Vorstellungswelten des Mittelalters bevölkern, sind zwei Arten von Drachen besonders selten – die freundlichen und die siegreichen.¹²



Eines der letzteren Exemplare findet sich im ›Ortnit‹, einem Heldenepos, das inhaltlich und durch die Überlieferung zu einem weiteren heldenepischen Text gehört, dem sog. ›Wolfdietrich‹, der dessen Fortsetzung darstellt. Die Überlieferungsgeschichte der Texte, die in verschiedenen Fassungen erhalten sind, ist einigermaßen komplex; lediglich die sog. Textversion D ist vollständig überliefert, während alle anderen Versionen lediglich fragmentarisch erhalten sind. Die Entstehung des Textes wird grundlegend auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert, wobei es durch die Schwerpunktsetzungen der verschiedenen Fassungen zu jeweils unterschiedlichen Einzeldatierungen kommt.



›Ortnit‹ und ›Wolfdietrich‹ sind Erzählungen, die im Hinblick auf ausgefallene Erzählmotive mühelos moderne Fantasyromane in den Schatten stellen: Es gibt tapfere Ritter und bezaubernde Damen, magische Rüstungen und verzauberte Schwerter mit einem eigenen Namen, Ringe, die Unsichtbares sichtbar machen können, uralte Zwerge, unerwartete „Ich bin dein Vater“-Momente und – Drachen, und zwar gleich eine ganze Schar, kleine wie große.



Ein bedeutender Handlungsstrang in der ›Ortnit‹-Erzählung ist die Brautwerbung bzw. der gewaltsame Brautraub. Im ›Ortnit‹ wird von einer wunderschönen heidnischen Königstochter erzählt, die im Morgenland unter dem Joch ihres Vaters sehr zu leiden habe. Der junge Herrscher macht sich mit einem großen Heer und dem Zwerg Alberich auf, die Prinzessin zu befreien, was ihm nach einer verlustreichen Belagerung schließlich gelingt. Die Dame wird zurück in Ortnits Heimat geführt, während ihr Vater daheim auf Rache sinnt. Da kommt ein Jäger zu ihm und eröffnet dem Heidenkönig einen Plan, wie man Ortnit hinterlistig töten könne:



Ich hatte mich auf der Suche nach den Hunden zu weit verrannt und kam hinter eine steile Felswand. Einen hässlichen Drachen sah ich dort umhergehen: Selbst wenn ich die Stärke von Tausend Männern hätte, so hätte ich ihn nicht bezwingen können. Er hätte mich verschlungen, wenn er mich dort entdeckt hätte. In den Wald ließ ich ihn schleichen und kletterte in sein Nest. Ich fand dort ein Ei, das war noch größer als mein Kopf. Und als ich weitersuchte, fand ich noch ein Zweites. Die waren unschön, groß und schwer genug, dass ich sie kaum nach Hause tragen konnte.



ich het nach den hunden | ze verre mich verrant, / do chom ich unverbeiset | under ein stain want. / Einen wurm ungefugen | sach ich dar zu gan: / hiet ich tausent man sterche, | den wold ich nicht bestan. / er hiet mich verslunden, | hiet er mich da gewest. / ze wald liez ich in sleichen | und hub mich in sein nest. / Noch grozzer danne mein haubet | vand ich da ein ay. / da suecht da mere: | ich vand nicht wan zway. / deu waren ungefuge, | groz und swer genuch, / also daz ich seu chaum | haim in mein hauz getruch. – Walter Kofler (Hrsg.), Ortnit und Wolfdietrich A, Stuttgart 2009, Str. 490-492, S. 90.



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Die wahrscheinlich bekanntesten Drachen der Gegenwartskultur finden sich in der Serie ›Game of Thrones‹ (HBO, USA: 2011-2018), in der sie ihre Karriere in Dracheneiern beginnen und sich während der Erzählung als temperamentvolle und gefährliche Jungtiere entpuppen.



Der Jäger weiß seinen Zufallsfund gewinnbringend zu nutzen – als biologische Waffe, die im Land des Feindes entfesselt werden muss. Er will die Eier nach Übersee schmuggeln, dort ausbrüten und die geschlüpften Drachenjungen solange versorgen, bis sie groß genug sind, um Ortnits Ländereien ins Chaos zu stürzen.



Ich fürchtete, sie könnten verderben, und legte sie in ein warmes Loch. Was auch immer dort drin ist, das ist lebendig: die Eier besitze ich noch. Mit ihrer Hilfe sollen wir die Drachen in das Land dort bekommen. Wer auch immer mit dem Teufel streitet, verliert sein Leben. Die Eier will ich in die Lombardei bringen, und dort an einem steilen Felsabhang die Drachen ausbrüten. Wenn sie alt genug sind, wird sie der Hunger sehr schmerzen: Ich glaube, dass es in diesem Lande nichts gibt, das vor ihnen bestehen kann. Den Menschen und dem Vieh wird es dann schlecht ergehen. Wenn Ortnit so ein König ist, dass er gegen den Drachen ins Feld zieht, so ist dies etwas, dessen er sich nicht erwehren kann. Geschieht es, dass der Drache ihn ergreift, so wird er Ortnit in seine Höhle tragen.



Ich vorcht, sie verdurben | und leget si in ein warmez loch. / swar dar inne ist, daz ist lebentich: | deu ayer han ich noch. / da von sul wir der wurme | in dem lande da bechomen. / swer mit dem tiefel streitet, | dem wirt der leip benomen. / Deu ayer wil ich furen | in der Lamparten lant / und wil die wurme prueten | in einer stain want. / choment si zu ir jaren, | in tuet der hunger we: / so wen ich, daz in dem lande / vor in icht da beste. Uber leut und uber viehe | iz danne so ergat. / so ist Ortneit so chune, | daz er den wurme bestat. / so mag er sich des aine | nicht erweren wol. / ist, daz er in begreiffet, | er trait in in sein hol. – Ortnit und Wolfdietrich A, Str. 493-495, S. 90.



Der ausgeklügelte Plan des Jägers geht auf – doch wird er beinahe selbst von den Jungdrachen verspeist, die miteinander aushecken, wie sie dem Jäger das Leben nehmen können, und deren Hunger keine Grenzen kennt. Nur mit großer Not kann der Jäger den Drachen entkommen und weist ihnen den Weg aus ihrer Höhle, um ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken.



Durch großen Hunger wurde der Drachen Zorn geweckt. Was auch immer ihre Augen sahen, war ganz und gar verloren. Was auch immer in dem Land fanden, das verschlangen sie komplett. So verhielten sie sich mehr als ein ganzes Jahr.



Von grozzem hunger geyt | wart do den wurmen zorn. / swaz in diu augen sahen, | daz waz gar verlorn. / swaz si in dem lande funden, | daz verslunden si so gar. / sus heten si ir erge | mer danne ein gantz jar. – Ortnit und Wolfdietrich A, Str. 519, S. 93.



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Die Auseinandersetzung mit den Jungtieren von Drachen hat sich bis in die Populärkultur gehalten. Hier fungieren die Jungen als harmlosere Vorstufe der Elterntiere, die oft die letzte Bewährung für den oder die Helden darstellen. Anders als Ortnit, werden die Helden heutzutage zum Glück nicht mehr aus ihren Rüstungen gelutscht.



Niemand ist mehr vor den Drachen sicher, die Ritter, Jägern und Bauern töten, während Äcker aus Furcht vor ihnen unbestellt und Wiesen ungemäht bleiben. Die meisten der Fassungen des Textes brechen an dieser Stelle ab. Doch die Textfassung A, die wir uns bisher angesehen haben, trägt die Handlung weiter: Ortnit selbst will sich der Sache annehmen, zum Leidwesen seiner Frau, die von ihm über die möglichen Ausgänge seines Vorhabens unterrichtet wird: Wird ihr sein Ring zurückgebracht, so kann sie davon ausgehen, dass Ortnit sein Leben gelassen hat. Wer den Kopf eines Drachens oder dessen Zunge bringt, beweise damit, diesen erlegt zu haben. Wer aber nur den Kopf ohne die Zunge präsentiere, sei ein Lügner. (Die Parallelen zur Drachenbegegnung des Tristan (s. o.) sind an dieser Stelle nicht zu leugnen). Wer ihr aber, so Ortnit, sein Schwert und seine Rüstung, die Drachenzunge und seinen Ring zurückbringe, der habe ihn gerächt – und soll ihr rechtmäßiger Mann werden.



Ortnit bricht auf, wird zuvor aber noch durch den Zwerg Alberich davor gewarnt, auf der Drachenjagd einzuschlafen. Tagelang irrt der Held gemeinsam mit seinem treuen Jagdhund auf der Suche nach den Drachen durch die Wildnis – und wird letztlich unter einem Baum doch von der Müdigkeit übermannt. Es kommt, wie es kommen muss: Der Drache findet den schlafenden Ritter, der tapfer von seinem Hund verteidigt wird. Doch jede Gegenwehr ist nutzlos:



Der Schlaf bereitete ihm Sorgen, das Wachen verdross ihn. Da legte sich die Bracke in den Schoß des Lombarden. Aufgrund seines Einschlafens sah er den Drachen nicht kommen: aufgrund dessen erlitt der Lombarde großen Schaden. Der Hund wollte den Drachen beißen, als er ihn bemerkt hatte: Dieser wiederum konnte aufgrund des Helms nicht zu dem Kopf kommen. Der ungeheure Drache riss seinen Schnabel auf: Sein Maul war breiter als eine massige Tür. Bis zu den Sporen verschlang er den Ritter. Der Grund dafür war, dass er ihn schlafend vorfand. Mit dem kleinen Hund wollte er dasselbe tun. Er rammte ihn so mit dem Schwanz, dass die Bracke nur mit Not entkommen konnte.



Der slaf chom im ze sorgen, | des wachens in verdroz. / do legt sich der prache| in des Lamparten schoz. / do chom von seinem slaffe, | daz er des wrmes nicht ensach: / da von dem Lamparten | der grozze schade geschach. / Der hunt wolt in peizzen, | do er het den wrm vernomen: / do mocht er von dem helm | nicht zu dem haubet chomen. / der wrm ungeheur | racht seinen snabel her fur: / sein munt wart weiter | dann ein maezzigeu tuer. / Untz an die sporn paide | den ritter er verslant. / daz chom von den schulden, | daz er in slaffunde vant. / dem chleinen hundelein | wolt er sam haben getan. / er ramt sein mit dem zagel: | der prache im chaume entran. – Ortnit und Wolfdietrich A, Str. 568+571-572, S. 99-100.



Derart in Gänze vom Drachen verschlungen, wird Ortnit weggeschleppt. Seine magische Rüstung bewahrt ihn zwar vor Schaden, dem Drachen entkommen kann er jedoch nicht. Völlig hilflos wird Ortnit in das Nest des Drachens geschleppt, wo man ihn bereits heißhungrig erwartet:



Der Drache bewegte sich vom Baum in Richtung Felswand. Aufgrund der Treue zu seinem Herrn lief der Hund dem Drachen bis an das Gebirge nach, in dem der Drache seinen Nistplatz hatte. Da fürchtete sich auch die Bracke und traute sich nicht, weiterzugehen. Die Drachenjungen im Nest hatten vor Hunger große Not. Hatte Ortnit bisher auch keinen Kratzer davongetragen, so musste er doch sterben. Der Drache trug ihn zu seinen Kindern in die Höhle: weil sie nicht an Ortnit herankamen, saugten sie ihn durch die Rüstung.



Dem wrm waz von dem paum | gein der stainwende gach. / durch seines herren trewe | lief er dem wrm nach / untz fur daz gepirge, | da sein geniste waz. / do vorcht auch im der prache | und gestorste nicht furbaz. / Die jungen heten dar inne | vor hunger grozze not. / swie er unverhawen waer, | doch must er ligen tot. / er trug in seinen chinden | in einen holn perch: / die mochten in nicht gewinnen | und saugten in durch das werch. – Ortnit und Wolfdietrich A, Str. 573-574, S. 100.



Unrühmlicher kann ein Held nicht sein Leben verlieren. Die Drachenjungen, deren Schnäbel und Zähne die Rüstung nicht durchdringen können, schlürfen den Ritter einfach durch die Öffnungen im Stahl. Der strahlende Held wird Futter für die Drachen.



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Ende 2019 erschien das ›Erbe des Drachen‹ für das im ›Warcraft‹-Universum angesiedelte Online-Kartenspiel ›Hearthstone‹. Die Erweiterung ergänzte das Spiel um eine ganze Reihe unterschiedlichster Drachen, unter anderem um einen ziemlich zufriedenen und sattgefressenen Jungdrachen, dem allem Anschein nach jedoch kein Ritter zum Opfer gefallen ist.



Ortnits Tod wird immerhin gerächt – allerdings nicht in der Textfassung A, die wir uns bisher angesehen haben. Diese bricht ab, als der Ritter Wolfdietrich sich anschickt, den Drachen zu besiegen, der Ortnit an seine Jungen verfüttert hat. Die Erzählung ist uns also nur als Fragment überliefert (Lies hier in unserem Artikel zum Dichter Tannhäuser, welche Herausforderungen und Schwierigkeiten die Überlieferung mittelalterlicher Texte mit sich bringen).



Die sog. Version D des ›Wolfdietrich‹ führt die Erzählung fort. Sie unterscheidet sich ohnehin recht beträchtlich von Fassung A: Ganze Handlungsstränge werden erweitert, zusammengelegt oder abgeändert (so führt der verschlagene Jäger zum Beispiel nicht zwei Dracheneier, sondern zwei Jungtiere ins Land des Helden) oder Figuren erhalten einen Namen (der Drache, der Ortnit verfüttert, trägt in D den blumigen Namen Schadesam, der Schadenverursachende).



In der Erzählung begegnen wir einem Motiv, das wir bereits kennengelernt haben: der Kampf eines Drachen gegen einen Löwen. Bereits das Wappen des Ritters verpflichtet ihn, dem Löwen zur Hilfe zu eilen. Damit beginnt ein Drachenkampf, der in der mittelalterlichen Literatur seinesgleichen sucht:



Er hörte vor sich im Wald einen lauten Kampf. Den führte ein wilder Löwe gegen einen unbändigen Drachen. Wolfdietrich führte in seinem Schild einen goldroten Löwen. Aufgrund dessen bot er dem Löwen seine Hilfe an.



Vor im in dem walde | hort er ein sturm. / den vaht der loewe wilde | und ein ungefieger wurm. / er fuort an sime schilte | ein löwen von golde rot. / durch daz selbe gewilde / sin helfe er ym do bot. – Walter Kofler (Hrsg.), Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Stuttgart 2001, Str. 1618, S. 319.



Mit Feuereifer bekämpft Wolfdietrich gemeinsam mit dem Löwen das grässliche Untier, das sich auf 24 Beinen hin- und herbewegt. Aber das Schwert des Ritters vermag es nicht, die dicke Haut des riesigen Drachen zu durchdringen.



Er schlug dem Drachen so feste auf den Schädel, dass ihm aus dem Haupt ein feuriger Nebel entfuhr und sein Schwert aufleuchtete – hier sage ich euch die Wahrheit. […] Sein Kopf war durch die Hornhaut felsenfest; so dick wie eine Handspanne und heller als ein Spiegel, zwischen Schultern und Hüfte war er zwölf Klaftern (jeweils das Maß zwischen zwei ausgebreiteten Armen) lang; sein Gang auf vierundzwanzig Beinen war furchterregend.



Er sluog den wurm wilde | vaste uf sinen gebel, / daz ym usz dem houbet | gie ein fúrin nebel / und im sin swert erglaste| daz sage ich úch fúr war. […] Sin houbet im von horne | ouch vil herte waz; / do mitte spannen dicke, | luter als ein glas. / zwischent schultern und hiffe | waz er zwelf chlafftern lang; / uf vier und zwenztig fuessen: | viel freischelich waz sin gang. – Ortnit und Wolfdietrich D, Str. 1626-1627, S. 320-321.



Die ungeheure Hitze, die vom Drachen Schadesam ausgeht, erschwert die Auseinandersetzung zusätzlich, als Wolfdietrichs Schwert weich wird und sich verformt:



Das Schwert wurde durch die Hitze noch weicher als Blei. Dem edlen Fürsten gelang es nicht, den Drachen auch nur anzukratzen. Er schlug mit Eifer auf den Drachen ein. Da begann der Drache Schadesam zu wüten.



Daz swert wart von der hitze | noch weicher den ein bly. / er kunde sin nit verritzen, | der edel fúrste fry. / er sluog aber mit nide | uf den wurm dan. / di begunde wieten | der wurm Schadesan. – Ortnit und Wolfdietrich D, Str. 1628A, S. 321.



Während im ›Iwein‹ Ritter und Löwe noch siegreich aus dem Kampf gegen den Drachen hervorgehen, entpuppt sich Schadesam als schier unüberwindbarer Gegner. Wolfdietrich und der Löwe bangen beide um ihr Leben, als sie merken, dass ihre Angriffe dem Drachen keinen merklichen Schaden zufügen. Zusammen versuchen sie, das Untier zu überwinden. Wolfdietrich springt dem Drachen sogar auf den Kopf, doch sein Schwert zerbricht am harten Schuppenpanzer. Schlimmer noch, der tapfere Ritter wird vom Schwanz des Drachen umschlungen – wie in den naturkundlichen Schriften geht auch hier die tödlichste Gefahr vom Schwanz aus.



Als der Löwe sah, dass sein Herr gefangen war, begann er zu zerren, bis das Blut in das Gras floss. Der Drache wurde erzürnt: Er stieß den Löwen einen Abhang hinunter, dass ihm das Herz im Körper zerbrach. […] Den Fürsten umschlang der Drache mit seinem Schwanz, den Löwen nahm er in sein Maul: Sofort begann er, sie seinen Jungen zum Fressen zu bringen.



Do der loewe gesach, | daz sin herre gefangen waz, / erst begunde er zeren, | daz daz bluot ran in daz gras. / der wurm wart erzirnet: | er sties den loewen hinder sich zuo tal, / daz im daz hertze brach in dem libe. […] den fúrsten het er under dem zagel, / den loewe nam er in den munt: / er begunde sy zuo luoder tragen | den jungen an der stunt. – Ortnit und Wolfdietrich D, Str. 1640-1641, S. 322.



Als treusorgendes Elternteil trägt der Drache Wolfdietrich und den toten Löwen wie bereits Ortnit vor ihnen in sein Nest im Berg, in dem die Drachenjungen bereits gierig auf frisches Futter warten. Als Erstes wird der Leichnam des Löwen verschlungen. Aber das einst stolze Tier stellt für die Jungtiere gerade einmal die Vorspeise dar. Wolfdietrich, der sich zwischenzeitlich unter einem Leichenberg verstecken konnte, wird vom garstigen Drachennachwuchs aufgestöbert, der ebenfalls versucht, ihn aus seiner Rüstung zu saugen:



Sie jaulten solange nach der Speise – der Hunger nötigte sie sehr –, bis der alte Drache ihnen den Löwen darreichte. Als die grausamen Drachen den Löwen fraßen, streckte der alte Drache den Schwanz von ihnen. Der Ritter war befreit; er sprang aus hoher Höhe. Das älteste Jungtier begegnete ihm feindlich. Wolfdietrich sprang über seinen Kopf; und fiel nach hinten hinüber. Da verbarg er Kopf und Arme unter einer Vielzahl toter Männer. Als die jungen Drachen den Löwen verzehrt hatten, wurden sie auf die nächste Speise ganz erpicht. Sie begannen, ihn zu suchen: Sie fanden den gelobten Fürsten, wo er sich unter den vielen toten Männern versteckt hatte. Sie begannen, an ihm zu saugen – das sagt uns dieses Buch fürwahr. Aber sie kamen um ein Haar nicht an Wolfdietrich heran. Sein Hemd legte sich zwischen die Kettenringe, sodass die Drachen die Lust verloren. Weil sie Wolfdietrich nicht aussaugen konnten, jagten sie stattdessen den alten Drachen in der Höhle. Sie begannen, ihn feste zu beißen. Er wurde von ihnen schwer bedrängt und war noch blutig von dem Löwen: Das gereichte ihm sehr zum Nachteil. Er fürchtete, durch seine eigenen Kinder einen grausamen Tod zu erleiden. Da verließ er den Berg: Das kostete ihn große Mühe.



Sy gullent noch der spise | – daz det in grosse not –, / bitz in der alte wurm | den lowen dar gebot. / do sy gossent den loewen, | die wurme freisan, / do strackete der alte wurm | den zagel von in dan. / Der herre wart erleset; |er rucket us hoher bas. / die eilteste wirmin under den iungen | truog im grossen has. /er sprang ir úber daz hobet; | er viel hinder sich hin dan. / do barg er houbet und arme / under mangen toten man. / Do die wurme iunge | den loewen hettent verzert, / sy wurdent uf die spise | gereisset und gebert. / sy begundent in suochen: | sy fundent den fúrsten lobesan, / do er sich hette verborgen | under mangen toten man. / Sy begundent in sugen | – seit uns dis buoch vir wor. / sy moehtent in nit gewinnen / also tir als um ein hor. / daz hemde leit sich in die ringe, / daz sy wurdent fol. / daz sy sin nit moehtent gewinnen, / sy iagetent den alten in dem hol. / Sy begundent in vaste bissen. | er waz mit in úber laden / und bluotig von dem loewen: / daz det ym grossen schaden. / er forhte von sinen kinden | den grimklichen tot. / do huob er sich us dem berge: | daz det ym grosse not. – Ortnit und Wolfdietrich D, Str. 1643-1647, S. 323.



Anders als Ortnit rettet Wolfdietrich sein Kettenhemd, das er unter der Rüstung trägt. Schließlich lassen die Drachenjungen frustriert von ihm ab und fallen stattdessen den alten Drachen an, der nun seinerseits fürchten muss, von der eigenen Brut getötet und verspeist zu werden. Um diesem Schicksal zu entgehen, tötet Schadesam das Pferd Wolfdietrichs, das noch herrenlos vor der Höhle herum irrt, und verfüttert es an seine kaum zu sättigenden Kinder.



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Die Kämpfe gegen Drachen sind ein zentrales Erzählmotiv im ›Wolfdietrich‹. In der Handschrift Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 365, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Straßburg entstanden ist, ist Wolfdietrichs Attacke auf zwei feuerspeiende Drachen die einzige bildliche Darstellung in der gesamten Handschrift.



Da fühlten sich der alte und die jungen Drachen gesättigt. Sie begannen, miteinander in der Höhle zu spielen. […] Der alte Drache warf den erlesenen Mann seinen Jungen zu. Da begann mit ihm ein ungestümes Spiel: Ein Jungtier warf den Ritter zum nächsten, bis in die Nacht, sodass Wolfdietrich durch die Stöße das Blut aus Mund und Nase rann. Als die Jungen genug gespielt hatten, da schliefen sie nebeneinander in der Höhle ein. Der alte Drache begann, wie ein Ochse zu schnarchen.



Do fulte sich der alte | und ouch die iunge fol. / sy begundent mit ein ander | spiln in dem hol. / […] Er warf in fúr sin iungen, | den userwelten man. / do wart ein ungefieges spil | mit im gehebet an: / einer gab in dem andern, | bitz in die naht benan, / daz ym von den stossen / daz bluot zuo munde und zuo nasen us ran. / Also nu die iungen | hettent gespielt wol, / do begundent sy by nander | entsloffen in dem hol. / russen als ein osse | der alte wurm began. – Ortnit und Wolfdietrich D, Str. 1649 + 1651-1652, S. 324.



Damit ist endlich Wolfdietrichs Gelegenheit gekommen, den Drachen den Garaus zu machen. Unter den Leichenbergen, die sich in der Drachenhöhle türmen, findet der Ritter ein magisches Schwert, das einst vom Riesen Eckeleit geschmiedet worden war, scharf genug, um auch die dicke Haut der Drachen zu durchschneiden. In einem abschließenden Kampf im Nest gelingt es Wolfdietrich, Schadesam den Kopf abzutrennen und in der Folge auch dem Nachwuchs den Garaus zu machen. Erschöpft findet Wolfdietrich die Überreste Ortnits, der einst denselben Drachen zum Opfer gefallen war, und erweist dem toten Herrscher die letzte Ehre. Auf diese Weise endet der wohl blutrünstigste und langandauerndste Drachenkampf in der Literatur des Mittelalters.



Drachen im mittelalterlichen Alltag – ein Streifzug

Wie wir gesehen haben, besitzen Drachen einen festen Platz in der Literatur des Mittelalters – quer durch alle Gattungen hindurch. Demnach waren sie im literarischen Leben mehr als präsent, unter anderem etwa als Zierelement in den Trägern von Literatur, den Handschriften. Von dort aus eroberten die Drachen weitere Bereiche des mittelalterlichen Alltagslebens und fanden Eingang in Architektur, Heraldik, Kunst und Technik.



Überall, wo sie auftauchten, übernahmen Drachen ganz verschiedene Funktionen: In Wales zum Beispiel avancierte der Drache zum Identifikationsträger für ein Volk, das die Kreatur im kriegerischen Bereich aufgrund ihrer Stärke und Macht überaus positiv konnotierte und dementsprechend in der Heraldik, als Feldzeichen und im Schmuck verwendete, wodurch die allegorischen negativen Interpretationen übertüncht wurden.¹³



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Im Jahr 1408 gründete der spätere römisch-deutsche Kaiser und König von Ungarn Sigismund den Drachenorden, einen Hoforden, dessen Mitglieder sich für den Schutz der Witwen und Waisen sowie die Heidenbekämpfung engagierten und dessen Schutzpatrone die Heiligen Georg und Margarete von Antiochia waren (s. o.). Das Zeichen des Ordens, ein Drache, dessen Schwanz sich um den eigenen Hals wickelt (ein sog. Ouroboros), symbolisiert die Überwindung des Bösen bzw. des Heidentums. Zahlreiche illustre Persönlichkeiten des Spätmittelalters waren Mitglied im Drachenorden, etwa der umtriebige Sänger und Haudegen Oswald von Wolkenstein (s. Bild, das Abzeichen befindet sich auf der Schärpe) oder der Vater Vlads III., dessen Beiname Drăculea wahrscheinlich auf die väterliche Ordenszugehörigkeit zurückgeht und der heute eng verbunden ist mit der Figur des Vampirs Dracula.



Insbesondere im mittelalterlichen Kriegswesen fanden Drachen eine Nische, in der ihre Gefährlichkeit und Größe für sie von Vorteil waren. Einerseits etwa mit Blick auf die ikonographischen Drachenboote der Wikinger in einem heidnischen Kontext, der von der christlichen Tradition lange unberührt blieb. Noch auf dem berühmten Teppich von Bayeux, der die Vorgeschichte und die Durchführung der Eroberung Englands durch den normannischen Herzog und in der Folge neuen König von England Wilhelm den Eroberer abbildet, finden wir Darstellungen von Kriegern, die Drachen im Schilde führen.



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Drachendarstellungen kommen auf dem Teppich von Bayeux aus dem 11. Jahrhundert vermehrt vor, sowohl als heraldisches Symbol auf den Schilden der Reiterkrieger als auch neben anderen Fabeltieren wie Greifen als figürliche Darstellung an den normannischen Kriegsschiffen.



Aber auch im höfisch-christlichen Kontext ist die Verwendung von Drachen trotz ihrer überaus negativen allegorischen Tradition kein absolutes No-Go gewesen. Selbst die Redakteure der Großen Heidelberger Liederhandschrift vom Beginn des 14. Jahrhunderts ließen einen Drachen Eingang in eine ihre Dichterminiaturen finden. So finden sich Drachen als furchteinflößende Helmzier bis in den Übergang zur frühen Neuzeit hinein.



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Die Miniatur des Minnesängers Herzog Johann von Brabant aus dem bedeutenden Codex Manesse. Der ritterliche Herzog wird im Schlachtgeschehen mit einem feuerspeienden Drachen auf dem Helm dargestellt.



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Ein italienischer Drachenhelm aus dem 16. Jahrhundert, heute im Musée de l’Armée in Paris.



Drachen spielten eine Rolle bis in kleine Bereiche des alltäglichen Lebens: Im Jahr 2014 erwarb das sehenswerte Dommuseum Hildesheim einen ganz besonderen Kunstgegenstand: ein seltenes Drachen-Aquamanile aus dem 12. Jahrhundert.¹⁴ Dabei handelt es sich um ein Gießgefäß, dessen Gebrauchskontext letztlich nicht geklärt ist.



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Drachen-Aquamanile des 12. Jahrhunderts aus dem Dommuseum Hildesheim, das wahrscheinlich in einem liturgischen Kontext Verwendung fand.



Mittelalterliche Kirchenschatzinventare erwähnen figürliche Gießgefäße, die für die Handwaschung vor liturgischen Handlungen Verwendung fanden. Womöglich hat die Erscheinung des Hildesheimer Drachen-Aquamaniles in diesem Kontext eine tiefergehende Bedeutung, galt der Drache, wie wir gesehen haben, als Erscheinung des Bösen und Teuflischen. In diesem Fall hätte das Gefäß an die Sünden und Laster erinnert, wodurch die ethisch-moralische Reinigung, die mit der Handwaschung ebenfalls vollzogen werden sollte, noch einmal eigens akzentuiert worden wäre.¹⁵



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Christus wird vor Pontius Pilatus geführt, der seine Hände in Unschuld wäscht – mit Hilfe eines Drachen-Aquamanile, das von einem Diener gereicht wird. In welchem Kontext das Hildesheimer Exemplar Verwendung gefunden hat, ist ungeklärt. Miniatur aus dem Psalter Bonmont, 1260, Besançon, Bibliothèque Municipale, Ms.54, fol. 11v.



Auch in der Architektur waren Drachen omnipräsent; einerseits natürlich in den Sakralbauten, in denen sie gemeinsam mit Teufeln und Dämonen die Schattenseite der Schöpfung repräsentierten. Aber auch im weltlichen Kontext wurden Drachen als neutrale Zierelemente in Stein gemeißelt.



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Drachen als architektonische Zierelemente im Rittersaal von Schloss Tirol, der bedeutendsten Burg der Region oberhalb der Stadt Meran in Südtirol.



Der Drache am Ende der Geschichte

Betrachtet man die nahezu unüberschaubare Fülle an Literatur, Architektur und Motiven, die bereits im Mittelalter den Drachen zum Thema gemacht haben, so bleibt es letztlich nicht verwunderlich, dass Drachen bis heute so eng verknüpft sind mit unserem Bild der Epoche – freilich unter dem Vorbehalt, dass es heutzutage vornehmlich die moderne Mittelalterfantasy ist, die ohne Drachen gar nicht mehr denkbar ist.



Bleibt abschließend die Frage zu stellen, ob die Menschen des Mittelalters wirklich davon ausgegangen sind, dass Drachen existierten. Die Frage ist einigermaßen kompliziert und wird in der Forschung weder mit einem klaren Ja noch einem klaren Nein beantwortet. Uns heute fremd gewordene religiöse und weltanschauliche Vorstellungen, ein auf anderen Prämissen stehendes naturkundliches Verständnis, Motive und Erzählelemente, welche die Zeit nicht überdauert haben – all dies macht die Beantwortung schwierig, genauso wie der Umstand, dass eine einhellige Aussage für einen Zeitraum von 1000 Jahren über alle Ländergrenzen, Bildungshorizonte und Bevölkerungsschichten hinweg ohnehin nicht getroffen werden kann.¹⁶



Ein Flugdrachen, dessen Schwingen sich am Horizont zeigten, konnte zu einer prekären Erfahrung für einen Mann des 13. oder des 17. Jahrhunderts werden, sicher war er eine Überraschung, doch stand er nicht außerhalb des Erwartbaren. – Roling, Drachen und Sirenen, S. 9.



So ist in den heutigen Drachendarstellungen in aller Regel etwa die allegorische Dimension, die den Drachen in die Nähe des Teufels gerückt hat, völlig verloren gegangen.



Zwar gibt es Drachen, die einigermaßen garstig und bösartig sind. Diese Eigenschaften sind aber Ausdruck ihrer natürlichen Konstitution als realgedachte Lebewesen in einem realistischen oder fantastischen Lebensweltkontext – ganz gleich, ob man sich die Drachen in ›Harry Potter‹, ›Warhammer Fantasy‹ oder sonst wo anschaut.



Tatsächlich sind Drachen heute mehr denn je in der Lage, als gute Entitäten zu agieren. Fuchur in Michael Endes ›Die unendliche Geschichte‹, Draco im Fantasyspielfilm ›Dragonheart‹ oder die gesamte Entourage an Drachen in der Animationstrilogie ›Drachenzähmen leicht gemacht‹ – sie alle strafen jene Lügen, die behaupten, dass ein Drache unbedingt böse sein muss. So kann der Drache heute auf eine Geschichte von mehreren Tausend Jahren zurückblicken, und ist heute so vielseitig wie niemals zuvor.



Literaturverweise

  1. 0. Vgl. einführend in das Thema Martin Arnold, The Dragon. Fear and Power, London 2018; Bernd Roling, Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, London / Boston 2010 (= Mittellateinische Studien und Texte 42), S. 551-651; Michel Meurger, Histoire naturelle des Dragons. Un animal problématique sous l’oeil de la science, Rennes 2001 (= Terres fantastiques). Die Arbeit Timo Rebschloe, Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas, Heidelberg 2014 (= Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), zugl. Diss. Köln 2012 kann als Überblicksdarstellung dienen, weist im Detail an vielen Stellen allerdings Fehler auf und meidet die Auseinandersetzung mit Quellen in Originalsprache.
  2. 1. Vgl. die Übersicht bei Friedhelm Schneidewind, Von Babylon bis Eragon: Die Wechselwirkung von Mythos / Literatur und (Natur-)Wissenschaft in der westlichen Drachenvorstellung, in: Fanfan Chen / Thomas Honegger (Hrsg.), Good Dragons are Rare. An Inquiry into Literary Dragons East and West, Frankfurt a. M. 2009 (= ALPH. Arbeiten zur Literarischen Phantastik 5), S. 1-26: ferner unter anderem mit spezifischem Blick auf die Drachen J.R.R. Tolkiens Thomas Honegger, A good dragon is hard to find or, from draconitas to draco, in: ebd., S. 27-59. Vgl. für den asiatischen Raum etwa Walter Schinzel-Lang, Der chinesische Drache, in: Mythos Drache – Schwingen, Schuppen, Schwefeldämpfe. Katalog zur Ausstellung, hrsg. von Studierenden der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg 2002, S. 83-89.
  3. 2. Vgl. zu dem Thema Patrick A. Brückner, Der Dichter hält es seltsamerweise für lohnend, Drachen zum Thema zu machen…: Der Drache als poetologisches Konzept von Realität bei J.R.R. Tolkien, in: Chen / Honegger (Hrsg.), Good Dragons, S. 215-269; Anne C. Petty, J.R.R. Tolkien’s Dragons: The Evolution of Glaurung and Smaug, in: ebd., S. 271-290.
  4. 3. Vgl. allgemein Carol L. Robinson, Electronic Tolkien: Characterization in Film and Video Games, in: Gail Ashton (Hrsg.), Medieval Afterlives in Contemporary Culture, London 2015, S. 124-133.
  5. 4. Vgl. zu Drachen in der Kinderliteratur Maren Bonacker, Domestizierte Drachen: Von der Zähmung und Auswilderung kinderliterarischer Drachen, in: Chen / Honegger (Hrsg.), Good Dragons, S. 191-214.
  6. 5. Vgl. zu dem Thema einführend Christel Meier (Hrsg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Akten des Kolloquiums des Projekts D im Sonderforschungsbereich 231 (29.11.-1.12.1996), München 2002 (= Münstersche Mittelalter-Schriften 78).
  7. 6. Vgl. zu Drachen in den Enzyklopädien Geneviéve Sodigne-Costes, Du Boa au Monstre Volant: Realite et Mythe du Dragon chez les Encyclopedistes du XIIIe Siecle, in: Wolfgang Spiewok / Danielle Buschinger (Hrsg.), Le Dragon dans la Culture Medievale. Colloque du Mont-Saint-Michel, 31 octobre – 1er novembre 1993, Greifswald 1994 (= Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 24 / Wodan. Recherches en littérature médiévale 39), S. 65-75.
  8. 7. Vgl. etwa Brigitte Englisch, Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen und hohen Mittelalters, Berlin 2002 (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 3).
  9. 8. Zur Abbildung von Tieren auf mittelalterlichen Weltkarten vgl. Margriet Hoogvliet, Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides. Die Zoologie der mappae mundi, in: Ulrich Müller / Werner Wunderlich (Hrsg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999 (= Mittelaltermythen 2), S. 89-102.
  10. 9. Vgl. Orsolya Réthelyi, The Lion, the Dragon, and the Knight: an interdisciplinary Investigation of a medieval Motif, in: Annual of medieval Studies at CEU 7 (2001), hrsg. von Marcell Sebók / Katalin Szende, S. 9-37.
  11. 10. Vgl. zu Drachen im Tristanstoff Danielle Buschinger, Le Dragon dans le Romans de Tristan, in: Spiewok / Buschinger (Hrsg.), Le Dragon, S. 27-36.
  12. 11. Vgl. Joyce Tally Lionarons, „Sometimes the Dragon Wins“: Unsuccessful Dragon Fighters in Medieval Literatur, in: Loren C. Gruber (Hrsg.), Essays on Old, Middle, Modern English and Old Icelandic. In Honor of Raymond P. Tripp Jr., Lewiston, New York 2000, S. 301-316.
  13. 12. Vgl. Carl Lofmar, Der rote Drache der Waliser, in: Helmut Birkhan (Hrsg.), Festschrift für Otto Höfler zum 75. Geburtstag, Wien 1976 (= Philologica Germanica 3), S. 429-448.
  14. 13. Vgl. Claudia Höhl / Gerhard Lutz / Joanna Olchawa (Hrsg.), Drachenlandung. Eine Hildesheimer Drachen-Aquamanile des 12. Jahrhunderts, Regensburg 2017 (= Objekte und Eliten in Hildesheim 1130 bis 1250 1).
  15. 14. Vgl. Joanna Olchawa, Das neu erworbene Aquamanile in Hildesheim. Objekt- und Bedeutungsanalyse, in: Höhl / Lutz / Olchawa (Hrsg.), Drachenlandung, S. 36-38.
  16. 15. Vgl. zu der Frage nach dem Realitätsgehalt von Drachen im Mittelalter etwa Henrike Manuwald, Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien. Mediävistische Überlegungen zur Historisierung von ‚Faktualität‘, in: Johannes Franzen / Patrick Galke-Janzen / Frauke Janzen / Marc Wurich (Hrsg.), Geschichte der Fiktionalität. Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept, Baden-Baden 2018 (= Faktuales und fiktionales Erzählen 4), S. 65-87.