Leben wie ein Burgherr in Frankreich: Guédelon

Wir schreiben das Jahr 1228. Die Puisaye, eine an Wald und Seen reiche Landschaft in Burgund, untersteht seit etwa 1218 der Herrschaft von Jean de Toucy. Er ist Vasall des französischen Königs Ludwig IX. und Lehnsherr von Guilbert, der in die Familie eingeheiratet hat. Auf dem hinzugewonnenen Land, über das Guilbert durch die Mitgift seiner Frau verfügt, möchte er eine Burg errichten – einen kleinen, befestigten Herrensitz: Guédelon.



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Jahr für Jahr schreiten die Arbeiten an der Burg weiter voran. Während die Anlage in den Wintermonaten geschlossen ist, kann die Baustelle von März bis November besichtigt werden.



Während Jean de Toucy tatsächlich lebte, sind Guilbert und die Geschichte von Guédelon frei erfunden. Dass Guédelon dennoch existiert und besichtigt werden kann, ist der Vision des Kunsthistorikers Michel Guyot zu verdanken, der die Idee entwickelte, eine Burg nach mittelalterlichem Vorbild zu errichten. Etwa eine Dreiviertelstunde von Auxerre entfernt, fanden Guyot und sein Team die perfekte Stelle für das ambitionierte Vorhaben: ein in den 1950er Jahren stillgelegter Steinbruch, umgeben von Wald und in der Nähe von Wasser gelegen.



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Eines der Fenster der Burg Guédelon.



1997 begannen die Arbeiten an Guédelon, das sich an Standardvorgaben König Philipps II. von Frankreich (1180-1223) orientiert, die einen polygonalen Grundriss des Hauptgebäudes ebenso vorsahen wie runde Flankentürme mit Schießscharten, einen höheren Eckturm oder Zwillingstürme, die das Tor schützen.



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Besucher können bereits im Eingangsbereich, einer Scheune, ein Modell des Grundrisses betrachten. Es zeigt, wie die Burg nach ihrer Fertigstellung aussehen soll.



Doch nicht nur der Umriss des Gebäudes sollte alles andere als fiktiv sein. Guyot und seine Mitarbeiter setzten es sich zum Ziel, ihre Burg nur mithilfe von Rohstoffen, Werkzeugen und Techniken zu errichten, die im 13. Jahrhundert ebenfalls zur Verfügung standen, um so einen Bauprozess nachzuzeichnen, wie er damals vonstattengegangen sein könnte.



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Die Dachkonstruktion kommt ohne moderne statische Berechnungen aus.



Anfangs als unseriös abgetan, zog das Projekt schon bald das Interesse von Forschern auf sich und wird mittlerweile sowohl wissenschaftlich begleitet wie auch vom französischen Staat und der EU finanziell gefördert.



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Das Hauptgebäude steht bereits in seinen Grundzügen.



Guédelon ist ein Ort des Lernens und der praktischen Arbeit: Manuskripte geben nur wenige Hinweise darauf, wie eine Burg im 13. Jahrhundert errichtet wurde – die Leerstellen müssen anders gefüllt werden, nämlich durch das Studieren historischer Bauwerke, durch Experimentieren und durch die unermüdliche Bereitschaft neue Pfade zu beschreiten, um alte Wege zu erschließen. Learning by doing. „Theoretische“ Wissenschaft und handwerkliche Praxis profitieren hierbei voneinander: Während die Wissenschaftler anhand der Baustelle eigene Hypothesen überprüfen können, nehmen sie zugleich eine beratende Funktion ein.



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Stein für Stein entsteht die Burg.



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Dieser Turm befindet sich noch im Aufbau.



Erwartet wird ein Abschluss der Arbeiten etwa im Jahr 2023, doch ist zu hoffen, dass es mit Guédelon dennoch weitergehen wird – vielleicht, indem ein mittelalterliches Dorf folgt – denn der Reiz des Projektes besteht zweifellos darin, Zeuge des Bauprozesses zu werden.



Allerdings ist Guédelon weit mehr als das Projekt weniger Enthusiasten. Die Baustelle ist offen für Besucher. Sie können den Hergang der Arbeiten nicht nur beobachten und eine mittelalterliche Baustelle hautnah erleben, sondern sind auch ausdrücklich dazu eingeladen, sich mit den Mitarbeitern vor Ort auszutauschen (Französischkenntnisse sind hierbei hilfreich, aber nicht zwingend notwendig).



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Diese Herrschaften inspizieren schnatternd das Gelände, damit in Guédelon auch alles seine Ordnung hat. Besondere Freude machen sie damit den Kindern.



Viel gibt es in Guédelon zu bestaunen, begonnen mit der Beschaffung der benötigten Rohstoffe, die mittels zeittypischer Werkzeuge und Methoden gewonnen werden: Steine werden mit einfachsten Mitteln aus dem Steinbruch gebrochen, das Holz von Hand aus dem Wald geschlagen. Auf von Pferden gezogenen Wagen oder Karren werden die Materialien zur Baustelle transportiert und dort weiterverarbeitet.



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Im Dauereinsatz sind die Steinmetze, die jeden der Bruchsteine von Hand bearbeiten und in Form bringen müssen. Ein Handwerker kann kaum mehr als zehn Steine am Tag schaffen. Um sich zu schützen, tragen die Steinmetze moderne Schutzbrillen – heutige Vorschriften sind auch auf einer mittelalterlichen Baustelle sinnvoll und können nicht einfach umgangen werden.



Auf dem Gelände ist längst eine eigene Infrastruktur entstanden, die vom Schmied über den Steinmetz bis hin zum Ziegelbrenner oder Mörtelmacher alle für den Burgenbau wichtigen Berufe um die Burg herum versammelt. Ob nun Nägel oder Seile produziert, Wolle gewebt oder Farbpigmente gewonnen werden: Jedes der Gewerke trägt seinen Teil zur Entstehung des Ganzen bei.



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Auch die notwendigen Bauhilfen wie Gerüste werden vor Ort hergestellt.



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Unerlässlich für die mittelalterliche Baustelle ist die Schmiede, in der etwa Werkzeuge oder Nägel herstellt werden.



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Beim Umgang mit Löschkalk, der etwa für die Herstellung des Mörtels benötigt wird, ist Vorsicht geboten. Da seine Gewinnung sehr gefährlich ist, wird er als einer der wenigen Rohstoffe nicht vor Ort gewonnen. Es sind kaum Aufzeichnungen über das wichtige Handwerk der Mörtelherstellung vorhanden, doch hat man in Guédelon mittlerweile eine Mischung herstellen können, die in ihrer Art und Zusammensetzung dem zeittypischen Mörtel sehr nahekommt.



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Der Zimmermann ist in vielfältiger Weise am Bau der Burg beteiligt. Er stellt nicht nur die hölzernen Bauelemente her, sondern ist auch für die Herstellung der Gerüste verantwortlich.



Bei so viel Herzblut, Entdeckerdrang und Forschergeist fällt es nicht ins Gewicht, dass dort, wo es um die Sicherheit der Mitarbeiter geht, etwas moderner zugehen muss. Auch für die Besucher werden einige Ausnahmen gemacht, etwa, wenn es um diverse Annehmlichkeiten geht.



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Für Sanitäranlagen ist ebenso gesorgt wie für die Verpflegung. Zu empfehlen ist im Übrigen eines der köstlich-fruchtigen Sorbets, die man mit Ausblick auf die Baustelle genießen kann.



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Nicht nur Gänse gibt es in Guédelon zu bestaunen. Hier beobachtet ein neugieriges Huhn, wie Farbpigmente gewonnen und Stoffe eingefärbt werden.



Wer neugierig auf Guédelon geworden ist, kann auf dieser Webseite ausführliche Informationen über das Projekt erhalten und dort auch Tickets buchen.



Wem eine Reise in das mittelalterliche Burgund nicht vergönnt ist, kann im Internet Dokumentationen über Guédelon ansehen (wie etwa hier auf ARTE) – oder vielleicht eines der ähnlichen Projekte auf deutschem Boden besuchen: Auf dem ›Campus Galli‹ wird ein karolingisches Kloster des 9. Jahrhunderts rekonstruiert und in ›Lauresham‹, beim Kloster Lorsch, ein idealtypischer Zentralhof des 8. / 9. Jahrhunderts erfahrbar gemacht.