›König der Turniere‹: Im Interview mit Juliane Stadler

Mit ›König der Turniere‹ von Juliane Stadler ist im November 2023 im Piper Verlag ein gelungener historischer Roman erschienen, der mit dem Ritterturnier ein Evergreen der Mittelalterrezeption zum Thema hat (unsere Rezension zum Roman findet ihr hier). Wir sprechen mit der Autorin über ihren zweiten Mittelalter-Roman; darüber, wie die Idee zu ihm entstanden ist, wie sich Quellenmaterial und Forschungsliteratur in eine Erzählhandlung verwandeln lassen und wie herausfordernd der Balanceakt ist, einen gleichermaßen „modernen“ wie „authentischen“ Roman zu schreiben.



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Juliane Stadler studierte an der Universität Heidelberg Ur- und Frühgeschichte, Archäologie des alten Orients sowie Alte Geschichte und promovierte mit einer Untersuchung zu frühkeltischen Bestattungssitten. Sie arbeitete als Journalistin und Redakteurin, auf Ausgrabungen, in Museen und archäologischen Forschungseinrichtungen oder unterrichtete Studierende und versuchte dabei stets, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken.



Diesen Wunsch verknüpfte sie schließlich mit der Leidenschaft zum Schreiben. Nach unzähligen Schubladenmanuskripten und einigen erfolgreich veröffentlichten Kurzgeschichten wagte sie sich mit ›Krone des Himmels‹ an ihren ersten historischen Roman. Dafür recherchierte sie unter anderem an Originalschauplätzen entlang der Kreuzzugsroute Barbarossas und im Heiligen Land.



Vor Kurzem erschien ihr zweiter historischer Roman ›König der Turniere‹ im Piper Verlag.



Mittelalter Digital: Liebe Juliane, mit einem Abschnitt aus den Leben des Jungen Königs Heinrich von England und dessen erstem Ritter, Guillaume le Maréchal, hast du die für deinen Roman „König der Turniere“ ein Thema ausgesucht, das im Genre des Historischen Romans noch sehr frisch ist. Uns selbst hat im Studium die Beschäftigung mit Guillaume insbesondere durch die Arbeiten von Georges Duby, der dem Ritter eine eigene Biographie gewidmet hat, eine kulturgeschichtliche Tür ins Mittelalter geöffnet. Wie bist du für deinen neuen Roman auf das Thema gekommen?



Juliane Stadler: Tatsächlich habe ich vor vielen Jahren, lange bevor ich Autorin wurde und sogar noch vor meinem Studium, eben diese Biographie von Georges Duby über den „Besten aller Ritter“ auf einem Bücherflohmarkt erstanden. Bereits damals dachte ich „Was für ein Leben! Warum hat noch niemand diese Geschichte in Romanform gebracht?“ Und wer weiß, vielleicht entstand zu diesem Zeitpunkt die Grundidee für meinen jetzigen Roman.



Auf der anderen Seite war da das Thema Turniere, das über kurz oder lang wohl alle Mittelalterbegeisterten beschäftigt. Mich hat fasziniert, dass sich die Wettbewerbe des 11. und 12. Jahrhunderts so anders darstellten als das Lanzenstechen der späteren Jahrhunderte, nämlich als kriegerischer Mannschaftssport. Darüber wollte ich mehr erfahren!



Mittelalter Digital: Deinem Roman merkt man – das haben wir auch in unserer Rezension dargestellt – die vertiefte fachwissenschaftliche Beschäftigung mit der Materie an. Einige der Forschungstitel, mit denen du gearbeitet hast, nennst du ja auch in deinem Nachwort. Sich einen kultur- und politikgeschichtlichen Horizont zu erschließen, ist das eine. Wie hast du dich Fragen der Alltags- und insbesondere der Turniergeschichte genähert?



Juliane Stadler: Leider gibt gerade die deutschsprachige Forschungsliteratur zum Thema Turniere nicht so viel her oder fokussiert sich auf die späten Turniere. Im englischsprachigen Raum sieht das besser aus. Wissenschaftler wie David Crouch haben sich mit monographischen Arbeiten der Thematik angenommen, wobei Guillaume le Maréchals gut dokumentierte Biographie eine wichtige Grundlage bietet. Aus diesen Untersuchungen konnte ich viel lernen.



Außerdem habe ich mir die literarischen Werke des hochmittelalterlichen Schriftstellers Chrétien de Troyes vorgenommen und seine zahlreichen Turnierschilderungen studiert. Zusätzlich bietet die zeitgenössische Kunst – bildende Kunst, Lieder, Literatur etc. – auch einen Zugang zur emotionalen Ebene der mittelalterlichen Menschen.



Daneben spielt natürlich die Sachkultur des 12. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, die man zum Teil noch in Museen bewundern oder zeitgenössischen Darstellungen entnehmen kann und die einen plastischen Eindruck z. B. von der Ausrüstung der (Turnier)Ritter vermittelt.



Ein großes Glück ist es außerdem, dass auch heute noch Menschen die historische Fechtkunst, das ritterliche Turnier oder die Ausbildung von Pferden nach mittelalterlichem Vorbild praktizieren und ihr Wissen und ihre Erfahrungen bereitwillig teilen. Im iberischen Raum werden zudem Pferde für die Rinderhaltung und den Stierkampf in einer Art und Weise ausgebildet und geritten, die viele Parallelen zur Schulung von Turnierrössern aufweist. So kann man auch heute noch Informationen aus erster Hand und viele wunderbare Details zu diesen Themen erfahren, die einem Roman die gewünschte Authentizität verleihen.



Mittelalter Digital: Stand in der frühen Entstehungszeit deines Romanes die Frage im Raum, Guillaume selbst zum Protagonisten der Geschichte zu machen? Wenn ja, wieso hast du dich dagegen entschieden? Welche Vorteile hatte es, die beiden fiktiven Figuren Erec und Genovefa ins Zentrum der Handlung zu rücken?



Juliane Stadler: Tatsächlich war für mich von Anfang an klar, dass Guillaume nicht der Protagonist des Romans sein soll. Auch wenn ich mich anhand der Quellen sehr intensiv in die historischen Figuren einzudenken und einzufühlen versuche, wahre ich gerne eine gewisse Distanz zu ihnen.



Der Blick von außen, durch die Augen fiktiver Figuren ermöglicht mir, mit Spekulationen, Fehleinschätzungen, Vorurteile oder aber blinder Heldenverehrung zu spielen, ohne mir anmaßen zu müssen, die wahren Gefühle, Gedanken und Beweggründe einer historisch verbürgten Person zu kennen. Denn natürlich werden wir nie genau wissen, was in deren Köpfen vorging. Durch diesen erzählerischen Trick kann ich es den Lesenden überlassen, wie sie den Menschen sehen möchten.



Meine fiktiven Perspektivträger wähle ich so, dass sie mir alle Blickwinkel auf die historischen Ereignisse liefern und mir ermöglichen, die Geschichte spannend und abwechslungsreich zu erzählen und wichtige (gesellschaftliche) Themen zu verhandeln.



Mittelalter Digital: Ein zentrales Thema deines Romans, der Titel lässt es erahnen und du hast es gerade schon erwähnt, ist das Turnierwesen des Mittelalters – ein Evergreen in der populärkulturellen Inszenierung des Mittelalters, von ›Ivanhoe‹ (1952) bis ›House of the Dragon‹ (2022). Musstest du dich von dieser wirkmächtigen Tradition von Turnierdarstellungen erst freimachen? – ›Ritter aus Leidenschaft‹ etwa, ein unseres Erachtens wirklich toller Mittelalterfilm mit Schwerpunkt auf dem Turnier, soll, das sagtest du ja im Podcast von Marvin und Katharina ›Epochentrotter‹, für dich ja gar keine Rolle gespielt haben.



Juliane Stadler: Natürlich kann ich am Ende nicht ausschließen, dass unterbewusst Aspekte aus der Popkultur in meinen Roman eingeflossen sind, vermutlich kann man sich gar nicht vollständig davon freimachen, Absicht steckt aber nicht dahinter. Eine weit größere Inspirationsquelle war – ohne selbst Fan zu sein – der moderne Profifußball, mit seinen augenfälligen Parallelen, was gesellschaftliche Beliebtheit und Bedeutung, Organisation, Struktur oder auch Starspieler und Fanwesen angeht.



Nachdem ich mir den wissenschaftlichen Background zu den Turnieren des 12. Jahrhunderts erarbeitet hatte, war es auch nicht schwer, sich aus gängigen Vorstellungen zu lösen, im Gegenteil, ganz neue Möglichkeiten haben sich aufgetan. Schon schwieriger war die Frage: Wie vermittle ich das den Lesenden, die ja mit sehr vorgeprägten Vorstellungen von Turnieren an die Sache herangehen. Wie viel muss ich erklären? Und wie stelle ich das unterhaltsam an, ohne mich ständig zu wiederholen oder wie ein Lexikon zu klingen?



Mittelalter Digital: Es gibt im Kontext von Guillaume le Maréchal eine ganz wunderbare Primärquelle, seine eigene Heldenbiographie, die kurz nach seinem Tod von einem seiner Söhne in Auftrag gegeben wurde: die altfranzösische ›Histoire de Guillaume le Maréchal‹. Der Text ist ein spannendes Zeugnis und aufgrund der inhaltlichen Gemengelage einigermaßen komplex, vereint er Aspekte aus Lebensbeschreibung, Anekdoten, Helden- und sogar Heiligendichtung. Hast du dich mit der ›Histoire‹ für deinen Roman auseinandergesetzt?



Juliane Stadler: Ich habe die ›Histoire‹ als kommentierte (englische) Übersetzung vorab gelesen und für manche Passagen, wie z.B. Guillaumes Bitte um einen Gerichtskampf, stark auf dort beschriebene Ereignisse und Reden Bezug genommen. Immer in dem Bewusstsein, dass die ›Histoire‹ natürlich auch als idealisiertes Heldenepos zu verstehen ist. Aber da ich nicht aus Guillaumes Blick erzähle – und es sich um einen Roman und nicht um eine Wissenschaftsarbeit handelt – kann ich mir gewisse Freiheiten erlauben.



Mittelalter Digital: Insbesondere in der ersten Hälfte des Romans stehen – natürlich – die Turniere, die Erec und seine Freunde bestreiten, im Fokus der Handlung. Auch wenn uns die Passagen gut unterhalten haben, ist uns doch aufgefallen, dass du – jedenfalls in unseren Augen – einige „Goldnuggets“ aus der Histoire hast liegen lassen, denn sie beschreibt (durchaus mit viel Augenzwinkern) wirklich herrliche Szenen, die sich bei Turnierteilnahmen Guillaumes abgespielt haben sollen.



So „verlor“ Guillaume bspw. einen besiegten Ritter, den er über den Rücken seines Pferdes legte, weil dieser mit seiner Rüstung an einer niedrigen Dachrinne hängenblieb, ohne dass Guillaume dies mitbekommen habe. Bei einem anderen Turnier sollte er als bester Kämpfe ausgezeichnet werden, war jedoch nicht aufzufinden – ein Schmied musste seinen Kopf aus seinem Helm befreien, der so verbeult war, dass er nicht mehr abzunehmen wahr. Hattest du dich bei deiner Recherche gegen solche Episoden entschieden oder ist der Marschall zugunsten der abenteuerlichen Erlebnisse deines Protagonisten Erec in den Hintergrund gerückt?



Juliane Stadler: Teils, teils. Natürlich verschwimmen m. E. gerade bei den von dir genannten, zweifellos sehr unterhaltsamen Anekdoten Dichtung und Wahrheit, zum anderen ist der Marschall in meinem Roman eine Nebenfigur (wenn auch eine sehr wichtige) und sollte daher nicht komplett Sympathie und Aufmerksamkeit an sich binden. Ich habe mich daher auf einige m. E. glaubhafte und eher weniger bekannte Geschichten aus seiner abenteuerlichen Turniervergangenheit beschränkt, die sich gut in die Handlung einfügen ließen, wie z. B. seine Kollaboration mit gegnerischen Rittern, der zweimaligen Erbeutung desselben Pferdes oder dem riesigen Hecht als Turnierpreis.



Mittelalter Digital: Wir haben bereits in unserer Rezension ausgeführt, wie gut dir unseres Erachtens der Balanceakt zwischen „historischer Authentizität“ und einer modernen Publikumsansprache gelungen ist – die Ausführungen in deinem Nachwort, insbesondere dazu, wie du die weiblichen Figuren geschrieben hast, zeigen, wie bedacht du das Thema angegangen bist.



Hältst du es für möglich, einen gelungenen Roman zu schreiben, in dem sich alle Figuren wirklich „mittelalterlich“ verhalten? Guillaume wäre dafür ein gutes Beispiel, der dem ritterlichen Ehrencodex seiner Zeitgenossen voll entsprach – aber keine Hemmungen hatte, einen (entlaufenen) Geistlichen auszurauben oder seine Ehefrau in seiner Abwesenheit strengstem Gewahrsam zu verantworten. Wie viel „moderne Mentalität“ muss deines Erachtens (wenigstens) in den Hauptfiguren stecken, damit sie für ein modernes Lesepublikum funktionieren?



Juliane Stadler: Die Vorstellung was „mittelalterlich“ ist und was nicht, ist ja in vielen Aspekten ein (modernes) Konstrukt, das m. E. dringend hinterfragt werden muss. Zum Teil zementieren Autor*innen historischer Romane durch die unkritische Übernahme von Quellenberichten oder auch einseitigen geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen diese Konstrukte und reproduzieren so ein Mittelalterbild, das es nie gegeben hat, uns aber wie die „historische Wahrheit“ erscheint und sich in den Köpfen festsetzt.



Gerade die Geschlechterforschung enthüllt Stück für Stück, welch große Wissenslücken wir in Bezug auf das Mittelalter und besonders in Hinblick auf die Lebenswelten von Frauen und marginalisierten Personen haben und wie sehr diese Lücken unsere Wahrnehmung von Mittelalter beeinflussen. In meinen Romanen versuche ich, moderne Perspektiven und aktuelle Forschungsergebnisse einfließen zu lassen, um festgefahrene Vorstellungen aufzubrechen, zumindest aber zu hinterfragen. 



Unabhängig davon dürften viele im Mittelalter gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen und Normen heute als verstörend und zurecht abstoßend empfunden werden. Als Schriftstellerin muss ich genau abwägen, wie viel davon und in welcher Form ich das den modernen Leser*innen zumuten will. Das Lesepublikum möchte sich mit den Romanfiguren identifizieren können. In der Erzählung sollte eine Figur also möglichst nie derart moralisch beschädigt werden, dass das Identifikationspotential völlig verloren geht. Das ist bisweilen ein Balanceakt und erfordert Kompromisse, vor allem bei historischen Figuren.



Mittelalter Digital: Bei den zahlreichen wirklich gelungenen Figuren in deinem Roman: Hast du eine ganz persönliche Lieblingsfigur?



Juliane Stadler: Mein Herz schlägt für die Underdogs und hier ganz besonders für den Straßenjungen und Knappen-Aspiranten Pep. Er ist im besten Sinne gutherzig und kindlich, dabei aber auch ein Lausebengel, schlau und gerissen. Auf seine Art ein Wanderer zwischen den Welten. Pep ist mir beim Schreiben immer mehr ans Herz gewachsen und ich würde zu gerne in einem weiteren Roman herausfinden, wohin er sich noch entwickelt.



Mittelalter Digital: Liebe Juliane, ganz herzlichen Dank für das schöne Interview mit dir!



Das Interview führte Tobias Enseleit.